Selbstorganisierte Teams sind ein grundlegendes Prinzip agilen Arbeitens. Allerdings zeigt sich sehr oft, dass Selbstorganisation ein missverstandener Begriff ist. Häufig entsteht bei vielen Führungskräften widerwilliges Gemurmel, wenn Selbstorganisation thematisiert wird: “Wo kommen wir denn hin, wenn jeder macht, was er will?!”
Mit diesem Artikel möchte ich Dir erstens vermitteln, was genau hinter dem Begriff Selbstorganisation steckt. Zweitens möchte ich Dir zeigen, warum selbstorganisierte Teams zwingend notwendig ist, um Komplexität zu bewältigen. Und zum Schluss gehe ich noch auf drei wichtige Bereiche ein, mit deren Hilfe Du autonomes Arbeiten in Deiner Organisation fördern kannst.
Selbstorganisation vs. Selbstmanagement vs. Autonomie
Wenn Du im Internet nach Definitionen für die Begriffe Selbstorganisation, Selbstmanagement oder Autonomie suchst, wirst Du feststellen, dass alle drei Begriffe häufig sehr ähnlich definiert sind.
Selbstorganisation als untergeordnete Kategorie
Manchmal wird Selbstorganisation aber auch als Teilbereich des Selbstmanagements verstanden. Sie umfasst dann lediglich die Kompetenzen eines Teams, die (wie der Begriff impliziert) eher organisatorischer Struktur sind. Während in vielen anderen Bereichen eher wenig Autonomie vorhanden ist. Das heißt, ein selbstorganisiertes Team darf zwar seine eigene Arbeit organisieren, aber darüber hinaus keine Entscheidungen treffen. (Beispielsweise Ziele setzen, die Struktur des Teams verändern, Prozessabläufe umgestalten etc.) Diese Tätigkeiten sind nach dieser Sichtweise im Management und bei Fach- bzw. Führungskräften verankert.
Selbstmanagement mit Fokus auf Individuen & Personen
Andererseits kannst Du bei Deiner Recherche auch feststellen, dass der Begriff Selbstmanagement eher in einem engen Bezug zu persönlicher, individueller Weiterentwicklung steht und seltener mit selbstorganisierter Teamarbeit in Verbindung gebracht wird. Spannenderweise ist mit dem Update des Scrum Guides im November 2020 der Begriff Selbstorganisation durch Selbstmanagement ersetzt worden. In erster Linie sollte diese Änderung verdeutlichen, dass Scrum Teams sich nicht nur selbst organisieren, sondern darüber hinaus auch sehr viele andere bzw. alle Entscheidungen autonom treffen. Verwirrenderweise verwendet der Scrum Guide nun jedoch einen Begriff, der kaum einen Bezug zu Teamwork hat.
Synonyme Verwendung
Deshalb verwende ich die Begriffe Selbstorganisation, Selbstmanagement und Autonomie in diesem Artikel (und auf meiner gesamten Internetseite) synonym.
Was ist Selbstorganisation?
Bevor ich Dir zeige, weshalb Selbstorganisation für viele Unternehmen eine Notwendigkeit ist und wie Du sie in Deiner Organisation fördern kannst, müssen wir natürlich trotzdem klären, was darunter zu verstehen ist. Am besten geht das tatsächlich, wenn wir uns anschauen, was Selbstorganisation nicht ist.
Was ist Selbstorganisation nicht?
Falls Du glaubst, Selbstorganisation oder autonomes Arbeiten bedeute, dass jeder macht, was er will, verwechselst Du sie mit Unabhängigkeit. Unabhängigkeit bedeutet, dass wir tun und lassen können, was wir wollen. Weder Regeln, Normen noch die Bedürfnisse oder Gefühle anderer sind dann für unser eigenes Handeln relevant. Wir tun die Dinge dann so, wie wir selbst (und nur wir) sie für richtig halten.
Dan Pinks 4T-Autonomie-Formel
Mit seinem Bestseller Drive: Was Sie wirklich motiviert machte Dan Pink grundlegende Erkenntnisse von Edward Decis Selbstbestimmungstheorie populär und lieferte gleichzeitig eine ebenso einfache wie hilfreiche Definition für Autonomie.
Pink bringt Autonomie auf eine 4T-Formel, die für verschiedene Aspekte steht:
Nach dieser Formel besteht Selbstorganisation darin, die eigenen Aufgaben selbst bestimmen oder festlegen zu können. Sich die Zeit für Tätigkeiten (möglichst) frei einteilen zu können. Eigene Lösungswege entwickeln zu können (statt sich in vorgegebenen Prozessen bewegen zu müssen). Oder auch untereinander ausmachen zu können, wer welche Aufgabe denn nun übernehmen soll.
Autonomes Arbeiten bedeutet nach dieser Sichtweise also nicht, dass es jedem freisteht zu entscheiden, ob die Arbeit erledigt wird. Oder dass jeder Mitarbeiter stets absolut unabhängig ist. Es bedeutet auch nicht, dass Anforderungen anderer Abteilungen oder gar die Bedürfnisse von Kunden vollkommen irrelevant sind.
Selbstorganisierte Teams haben Wahlmöglichkeiten und Optionen, wann sie ihre Arbeit erledigen (time), was sie tun (task), wie sie ihre Arbeit erledigen (technique) oder mit wem sie zusammenarbeiten (team).
Interessanterweise sind das exakt die gleichen Punkte, die auch der Scrum Guide hinsichtlich Selbstmanagement nennt. Denn dort heißt es:
Scrum Teams managen sich außerdem selbst, d. h. sie entscheiden intern, wer was wann und wie macht.
Warum ist Selbstorganisation wichtig?
Selbstorganisierte Teams sind natürlich kein reiner Selbstzweck. Die Verankerung von Selbstorganisation in einem Unternehmen, fußt auf zwei wichtigen Gründen. Erstens zwingt uns Komplexität gewissermaßen zur Selbstorganisation. Zweitens ist sie ein wichtiger Faktor, um die Motivation und Leistung eines Teams zu verbessern.
Komplexität macht Selbstorganisation notwendig
Komplexität bringt es mit sich, dass wir auf der Arbeit mit ständig wechselnden Situationen und Voraussetzungen konfrontiert sind. Die vielbeschworene VUCA-Welt macht es nahezu unmöglich, den “perfekten Prozess” für unsere Arbeit zu etablieren. (Denn dieser kann ja schon morgen nicht mehr funktionieren, weil sich seine Bedingungen geändert haben.)
Diese Problematik brachten Hirotaka Takeuchi and Ikujiro Nonaka bereits 1986 in ihrem berühmten Aufsatz The New New Product Development Game sehr präzise auf den Punkt:
This new emphasis on speed and flexibility calls for a different approach for managing new product development. The traditional sequential or “relay race” approach to product development – exemplified by the National Aeronautics and Space Administration’s phased program planning (PPP) system – may conflict with the goals of maximum speed and flexibility. Instead, a holistic or “rugby” approach – here a team tries to go the distance as a unit, passing the ball back and forth – may better serve today’s competitive requirements.

Die Lösung für komplexe Probleme ist demnach nicht (mehr) der bisher etablierte Staffellauf. Sondern ein selbstorganisiertes Team, dass sich den Ball gegenseitig zuspielt, um ans Ziel zu gelangen. (Aus diesem Rugby-Vergleich ist übrigens später das entstanden, was wir heute als Scrum kennen, dessen Name direkt aus dem Rugby entlehnt ist.)
Motivation und Leistung eines Teams
Wie bereits weiter oben angedeutet, fördert Selbstorganisation die Motivation und die Leistung eines Teams. Die umfangreiche Forschung zur Selbstbestimmungstheorie, in der Autonomie eine von drei notwendigen Säulen für die Entstehung von Motivation ist, belegt seit Jahrzehnten eindrucksvoll, dass Autonomie auch in Organisationen und auf der Arbeit eine zentrale Rolle spielt.
Selbst dann also, wenn das Management eines Unternehmens lediglich in betriebswirtschaftlichen Kategorien denkt, sollte es Mittel und Wege finden, selbstorganisierte Teams in seinen Strukturen zu fördern.
Wie lässt sich Selbstorganisation fördern?
Führe mit ergebnisorientierten Zielen
Selbstorganisation funktioniert nur dann, wenn den jeweiligen Teams klar ist, welches Ergebnis ihre Arbeit haben soll. Meiner Erfahrung nach scheitern viele Organisationen bei der Einführung agiler Methoden vor allem deshalb, weil sie zwar autonomes Arbeiten einfordern, aber vergessen, ihren Teams klare Ziele zu geben.
Das ist ungefähr so, als würdest Du eine Sportmannschaft aufs Feld schicken und ihr nicht sagen, welches Spiel gespielt wird. Je nachdem ob Fußball, Feldhockey oder Polo gespielt wird, sind die Regeln und die Bedingungen für einen Sieg vollkommen andere.
An dieser Stelle spielen ergebnisorientierte Ziele, die den Outcome der gemeinsamen Arbeit klar definieren eine zentrale Rolle. Ziele, die sich hingegen auf den Output konzentrieren, verringern die Autonomie aller beteiligten Teams und verhindern Selbstorganisation.
Erschaffe interdisziplinäre Teams
Ein weiterer wichtiger Schlüssel für mehr Selbstorganisation sind interdisziplinäre Teams. Denn logischerweise kann ein selbstorganisiertes Team sein Ziel auch nur dann eigenständig erreichen, wenn es alle notwendigen Skills dazu besitzt.
So klar und einleuchtend diese Erkenntnis vielleicht sein mag, so wenig sind die meisten Organisationen gewillt, ihre aktuellen Strukturen zu hinterfragen.
Doch wenn Dein Unternehmen Selbstorganisation wirklich fördern möchte, um mehr Agilität zu erreichen, muss sie bestehende Strukturen hinterfragen, die auf dem oben beschriebenen Staffellauf basieren. Gleichzeitig muss Deine Organisation interdisziplinäre Teams erschaffen, die autonom arbeiten können. Ansonsten hat sie gute Chancen das zu erschaffen, was agile Coaches gemeinhin als Cargo-Kult oder Zombie-Scrum bezeichnen.
Fördere Verlässlichkeit & Verantwortung
Der dritte Aspekt, auf den Du achten solltest, um die Selbstorganisation in Deinem Team zu verbessern, ist Verlässlichkeit und Verantwortung. Autonomes Arbeiten funktioniert nur dann, wenn sich das gesamte Team darüber bewusst ist, dass es auch ergebnisverantwortlich ist.
In Scrum Teams ist Verlässlichkeit natürlich eng an den Scrum Wert Commitment gekoppelt. Wenn Du die Änderungen im Scrum Guide vom November 2020 hinsichtlich Selbstmanagement betrachtest, wird Dir nun vielleicht auch klarer, warum die Scrum Rollen in Accountabilities umbenannt wurden.
Das gesamte Scrum Team ist ergebnisverantwortlich (accountable), in jedem Sprint ein wertvolles, nützliches Increment zu schaffen. Scrum definiert drei spezifische Ergebnisverantwortlichkeiten innerhalb des Scrum Teams: Entwickler, Product Owner und Scrum Master.
Lege den Fokus auf den Workflow und nicht auf die Menschen
Der vierte mögliche Weg, um mehr Selbstorganisation zu ermöglichen, ist ein Fokus auf den Fluss der Arbeit (Workflow). Dieser Ansatz wird ganz besonders von der Kanban-Methode favorisiert und ist sogar in den Kanban-Prinzipien ausdrücklich verankert.
Hierbei geht es also nicht darum, Menschen mit festen Prozessen und anderen Vorschriften zu ersticken, sondern sich darauf zu konzentrieren, wie die zu erledigende Arbeit durch die einzelnen Stationen in einer Organisation fließt. Steht der Workflow im Vordergrund haben die daran arbeitenden Menschen genügend Freiraum, sich selbst so zu organisieren, dass dieser Workflow immer weiter verbessert wird.
Fazit zur Selbstorganisation
Ich hoffe, ich konnte Dir mit diesem Beitrag einen guten ersten Einblick in das Thema Selbstorganisation geben. Wie ich Dir hoffentlich zeigen konnte, sind selbstorganisierte Teams keine selbstverliebte Spielerei agilen Arbeitens. Sondern eine zwingende Notwendigkeit, wenn Organisationen mit Komplexität konfrontiert sind.
Außerdem hoffe ich natürlich, dass ich Dir zusätzlich einige hilfreiche Tipps mit auf den Weg geben konnte, wie Du Selbstmanagement in Deinem Team und Deiner gesamten Organisation fördern und verbessern kannst.