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In diesem Artikel erfährst Du, was Psychologische Sicherheit ist und warum sie für die agile Arbeit eine so extrem wichtige Rolle spielt. Du lernst, was genau mit Psychologischer Sicherheit gemeint ist, aber auch, was nicht darunter zu verstehen ist. Ich stelle Dir außerdem einige Symptome vor, die auftreten, wenn sie nicht vorhanden ist und natürlich gebe ich Dir zusätzlich ein paar hilfreiche Tipps, was Du als Führungskraft unternehmen kannst, um ihr Auftreten zu begünstigen.

Zu guter Letzt erfährst Du, wie sich Psychologische Sicherheit messen lässt und wo Du noch mehr darüber erfahren kannst. (Falls Dir dieser umfangreiche Artikel immer noch nicht reichen sollte.)

Warum ist Psychologische Sicherheit wichtig?

Für nahezu alle Organisationen und Unternehmen haben sich die Vorzeichen in den letzten Jahren dramatisch verändert. Sie alle sind mit der Situation konfrontiert, dass sie auf plötzliche Veränderungen in ihrer Branche reagieren können müssen.

Sie müssen Unbeständigkeit, Komplexität, Ungewissheit und Mehrdeutigkeit bewältigen. Bedingungen, die unter dem Akronym VUCA bekannt geworden sind, und die durch die extreme Beschleunigung der Digitalisierung noch deutlich erschwert werden.

Warum Psychologische Sicherheit wichtig ist

Die lernende Organisation

Es ist schlichtweg nicht mehr möglich, Projekte in klar strukturierte Phasen aufzugliedern oder Produkte auf dem Reißbrett zu entwerfen. Und die wenigsten Aufgaben lassen sich noch ganz im Sinne des Taylorismus in repetitive Miniaufgaben zerlegen.

Eine Organisation, die mit hoher Komplexität konfrontiert ist, benötigt deshalb vollkommen andere Fähigkeiten als früher. Erstens muss sie schnell hinzulernen können, um gute Entscheidungen zu ermöglichen. Zweitens muss sie diese neuen Informationen, Erkenntnisse und Probleme auch schnell kommunizieren können, damit die gewonnenen Informationen auch nutzbar gemacht werden können. Und drittens muss sie innovativ und kreativ sein, um neue Antworten auf einen sich permanent verändernden Kontext geben zu können.
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Wie steht es um Deine eigene Organisation? Habt Ihr bereits eine Lernkultur entwickeln können?x

Unsicherheit senkt die Bereitschaft, unsere Meinung zu äußern

Und genau an diesem Punkt kommt Psychologischer Sicherheit eine ganz besondere Bedeutung zu. Denn Unsicherheit beziehungsweise Ungewissheit machen es schwieriger für uns, wichtige Informationen zu teilen oder unsere Meinung zu äußern.

Es ist ziemlich leicht, Deine Meinung zu äußern, wenn Du Dir zu 99,9 % (oder wenigstens zu 90 %) sicher bist, dass Du recht hast. Aber was passiert, wenn Du Dir vielleicht nur zu 40 % sicher bist? Wirst Du Deine Meinung trotzdem äußern?

Für Organisationen stellen nicht gehörte Meinungen, nicht geäußerte Bedenken, nicht gestellte Fragen und nicht kommunizierte Fehler ein Problem dar. Denn sie sind eine verpasste Chance hinzuzulernen und besser zu werden.

Perspektivenvielfalt & Diversität erzeugt auch Konflikte

Darüber hinaus sind die Herausforderungen, denen sich eine Organisation stellen muss, derart umfangreich, dass eine einzelne Person unmöglich alles überblicken kann. Gute Antworten auf komplexe Fragen erfordern Kollaboration über alle Ebenen einer Organisation hinweg, denn die entstehende Perspektivenvielfalt ist ein wichtiges Element zur Minimierung von Risiken.

Diversität und Perspektivenvielfalt bringt jedoch gleichzeitig Herausforderungen mit sich. Denn je unterschiedlicher die Sichtweisen werden, desto wichtiger ist es auch, gut miteinander kommunizieren zu können. Auch hierzu bietet Psychologische Sicherheit die notwendige Basis.

Was ist Psychologische Sicherheit?

Psychologische Sicherheit ist die gemeinsam geteilte Überzeugung, dass die Arbeitsumgebung sicher ist, um zwischenmenschliche Risiken einzugehen.

Interessanterweise begegnete Amy Edmondson in ihrer jahrzehntelangen Forschung zu Psychologischer Sicherheit sehr oft die Formulierung, dass jemand etwas nicht aussprechen konnte.

Was ist Psychologische Sicherheit

Vielleicht erscheint Dir das auf den ersten Blick seltsam. Denn in keiner Organisation gibt ja so etwas wie ein offizielles Redeverbot. (Zumindest in keiner, die ich kenne.) Trotzdem scheinen wir unter gewissen Umständen eine Art mentale Schranke zu entwickeln, die in uns das Gefühl erzeugt, etwas nicht an- bzw. aussprechen zu können.

Psychologische Sicherheit bedeutet daher, dass jedes Teammitglied (oder sogar jeder Kollege in einer Organisation) sich in der Lage fühlt, seine Meinung zu äußern. Sie ermöglicht es uns, relevante Ideen zu teilen, Fragen zu stellen oder auch Bedenken zu äußern. (Im englischen Original The Fearless Organization lautet die Formulierung übrigens „feel able to speak up“.)

Zwischenmenschliche Risiken

Bedenken zu äußern, Probleme anzusprechen, Fehler einzugestehen oder Fragen zu stellen – all das ist negativ behaftet. Und genau deshalb stellen sie für uns als Person das eingangs erwähnte zwischenmenschliches Risiko dar.

Weder möchten wir selbst in einem schlechten Licht dastehen noch wollen wir andere in Verlegenheit bringen. Möglicherweise möchten wir auch vermeiden, als Nestbeschmutzer dazustehen und schlimmstenfalls Vergeltungsmaßnahmen zu riskieren. Gelegentlich empfinden wir es auch einfach nur sinnlos uns zu äußern, weil wir glauben, dass es eh niemanden interessiert oder etwas ändern wird. Wir möchten auch weder aufdringlich noch inkompetent erscheinen. Und auf gar keinen Fall möchten wir die zwischenmenschlichen Beziehungen auf der Arbeit ruinieren!

Verschwiegene Innovation

Es mag ein alter Hut sein, dass schlechte Neuigkeiten nicht in die oberste Hierarchie eines Unternehmens gelangen. Aber wieso sollten innovative Ideen nicht geteilt werden?

Nun, auch für innovative (oder verrückte) Ideen stellt fehlende Psychologische Sicherheit eine Art mentale Schranke dar. Eine innovative Idee, die es tatsächlich schafft, ein marktfähiges Produkt zu werden, wird großen Nutzen für die gesamte Organisation und für Kunden stiften. Dieser Effekt wird jedoch nicht sofort eintreten, sondern erst nach einem mehr oder weniger großen Zeitraum. Und ob diese innovative Idee wirklich funktionieren könnte? Wer weiß das schon?

Und so beginnen wir gedanklich damit, die Gegenrechnung aufzustellen. Für uns selbst ist es viel sicherer, unsere Idee zu verschweigen. Damit wir uns nicht lächerlich machen können vor anderen. Und glücklicherweise tritt der positive Effekt des Schweigens auch noch unmittelbar ein.

Es ist noch niemand gefeuert worden, weil er in einem Meeting nichts gesagt hat.
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Wie steht es mit Dir? Hast Du auch schon einmal geglaubt, eine tolle Idee zu haben, aber sie verschwiegen?x

Wer profitiert? Wann? Gewissheit
Idee teilen Die Organisation oder der Kunde Mit Verzögerung niedrig
Idee verschweigen Ich selbst unmittelbar hoch

Psychologische Sicherheit ist also immer dann vorhanden, wenn wir einander vertrauen und respektieren und aufrichtig sein können, ja uns sogar dazu verpflichtet fühlen. Das kann jedoch nur dann passieren, wenn wir weder formelle noch informelle Konsequenzen befürchten (müssen).

TEDx-Talk von Amy Edmondson über Psychologische Sicherheit

Falls Du noch ein klein wenig mehr Informationen über Psychologische Sicherheit wissen willst, kannst Du Dir hierzu auch Amy Edmondsons TEDx-Talk aus dem Jahr 2014 anschauen.

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Was ist Psychologische Sicherheit nicht?

Damit Du noch besser verstehst, was genau Psychologische Sicherheit ist, lohnt es sich, besser zu verstehen, was Psychologische Sicherheit nicht ist.

Psychologische Sicherheit bedeutet nicht, immer nett zu sein

Es geht nicht darum, immer alles toll zu finden oder immer nett zu anderen zu sein, um niemanden zu verstimmen. Genau genommen ist das Gegenteil der Fall. Psychologische Sicherheit ermöglicht produktive und konstruktive Meinungsverschiedenheiten.

Nicht Psychologische Sicherheit

Konflikte tauchen auf der Arbeit zwangsläufig auf. Aber Lernen und Innovation können nur dann entstehen, wenn über Probleme, Herausforderungen und unterschiedliche Sichtweisen offen und aufrichtig gesprochen werden kann.

Psychologische Sicherheit ist keine Charaktereigenschaft

Du könntest zu dem Schluss kommen, dass Psychologische Sicherheit so etwas wie der Scrum Wert Mut ist. Dass wir nur genug Courage haben müssen, um Dinge, die schief laufen, im eigenen Team anzusprechen. Doch obwohl Mut in vielen Situationen nicht schaden kann, ist Psychologische Sicherheit keine Charaktereigenschaft, die wir selbst besitzen. Sie bezieht sich vielmehr auf die Atmosphäre oder das Klima innerhalb eines Teams.

Psychologische Sicherheit ist kein anderes Wort für Vertrauen

Auch Vertrauen ist wie der Scrum Wert Mut grundsätzlich wichtig. Und auch wenn Psychologische Sicherheit viel mit gegenseitigem Vertrauen gemeinsam hat, gibt es doch wichtige Unterschiede. Der Hauptunterschied ist der, dass Psychologische Sicherheit auf Team-Level existiert. Menschen tendieren dazu, eine ähnliche Wahrnehmung darüber zu haben, ob das Klima innerhalb eines Teams sicher ist oder nicht.

Vertrauen hingegen bezieht sich auf zwei Personen (oder auch Parteien). Vertrauen existiert sozusagen in mir selbst und bezieht sich auf eine andere Person (oder Partei).

Psychologische Sicherheit bedeutet nicht, Leistungserwartungen zu senken

Man könnte der Ansicht sein, dass es bei Psychologische Sicherheit darum ginge, Arbeit und Anforderungen so zu gestalten, dass sich alle im Team immer besonders wohl fühlen und sich permanent in der Komfortzone befänden. Leistungsstandards und Psychologische Sicherheit sind jedoch zwei unterschiedliche Dimensionen, wie Du in der folgenden Tabelle sehen kannst:

Niedrige Standards Hohe Standards
Hohe Psychologische Sicherheit Komfort-Zone Hochleistungs-Lern-Zone
Niedrige Psychologische Sicherheit Apathie-Zone Angst-Zone

Hohe Standards sind extrem wichtig, um Teams oder sogar eine ganze Organisation in die Hochleistungs-Lern-Zone zu bringen. Ist die Psychologische Sicherheit jedoch niedrig, entsteht Angst und Misstrauen. Mitarbeiter beginnen damit, Fehler und Probleme zu vertuschen, statt sie offen anzusprechen. Dieser Punkt ist besonders wichtig, wenn Dein Team beispielsweise sogenannte Stretch Goals nutzt, um zu herausragenden Leistungen zu gelangen.

  • Hier erfährst Du mehr über Stretch Goals, falls Du das Konzept noch nicht kennst.

Wie äußert sich die Abwesenheit Psychologischer Sicherheit?

Psychologische Sicherheit - Kultur des Schweigens

Nachdem Du nun weißt, warum Psychologische Sicherheit wichtig ist und was genau hinter Amy Edmondsons Konzept steckt, möchte ich mit Dir einen Blick darauf werfen, was geschieht, wenn sie nicht vorhanden ist.

Einerseits führt sie zu einer Kultur des Schweigens oder auch zu einer Kassandra-Kultur innerhalb einer Organisation.

Andererseits fördert sie sogar das Auftreten von Workarounds, die ein Problem für die Sicherheit und ungewünschte Risiken darstellen können.

Kultur des Schweigens

Einen Mangel an Psychologischer Sicherheit kannst Du recht einfach an einer Kultur des Schweigens erkennen. (Amy Edmondson spricht gelegentlich sogar von der Epidemie des Schweigens.) Die eingangs genannten Gründe für unseren persönlichen Selbstschutz führen dazu, dass weder wir noch jemand anderes Dinge anspricht, die besser angesprochen werden sollten.

Es sind all die Meetings, in denen bedrückendes Schweigen herrscht und niemand sich weiter äußern möchte. Workshops, in denen sich niemand meldet, wenn um Feedback gebeten wird. Oder Innovationsprojekte, die niemand übernehmen möchte, weil niemand daran scheitern möchte.
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Kennst Du weitere Beispiele dazu? Was davon hast Du bereits selbst erleben müssen?x

Kassandra-Kultur

Ein anderes Symptom für eine mangelnde Psychologische Sicherheit ist die sogenannte Kassandra-Kultur. Denn es kann durchaus geschehen, dass einige wenige Menschen die Kultur des Schweigens durchbrechen und lautstark Probleme im Team oder in der gesamten Organisation ansprechen. Und das trotz aller möglichen Vergeltungsmaßnahmen, die diesen Menschen potenziell drohen.

Das Dumme ist nur, dass niemand auf sie hört. Ihre Warnungen werden missachtet oder ignoriert, weil sich das restliche System auf eine andere Sichtweise geeinigt und diese als absolute Wahrheit definiert hat. Beispiele gibt es hierzu viele. Roger Boisjoly, ein NASA-Ingenieur, äußerte noch einen Tag vor dem Start der Challenger davor, dass extreme Kälte bei den Dichtungsringen des Space Shuttles Probleme bereiten könne. Gehört hat leider niemand auf ihn.

  • Ein eng damit zusammenhängendes Phänomen ist übrigens das sogenannte Group Thinking. Dadurch werden abweichende Meinungen systematisch ignoriert, sodass ein Team in seiner Denkweise vollkommen gleichgeschaltet ist.

Workarounds

Auch die Existenz von Workarounds auf der Arbeit kann ein Hinweis auf eine mangelnde Psychologische Sicherheit innerhalb einer Organisation sein. Es gibt Aufgaben und Herausforderungen auf der Arbeit, die so wichtig sind, dass wir hierzu eine Lösung benötigen, wenn wir sie nicht erledigen können. Fühlen wir uns nicht dazu in der Lage, diese Probleme offen anzusprechen (oder haben sie angesprochen, wurden jedoch ignoriert), machen wir uns auf die Suche nach Quick-n-Dirty-Lösungen.

Das Problem mit Workarounds ist, dass sie zwar grundsätzlich funktionieren, aber auch ein gewisses Risiko darstellen, weil sie nicht die Qualität oder Sicherheit bieten, die eine professionelle Lösung hätte.

Wie lässt sich Psychologische Sicherheit positiv beeinflussen?

Nun, wo Du weißt, was Psychologische Sicherheit ist und warum sie wichtig ist, stellt sich Dir vielleicht die Frage, ob und wie sie sich fördern lässt.

Falls Du Führungskraft bist, unterliegst Du vielleicht sogar der Versuchung, Offenheit und Aufrichtigkeit von jedem Mitarbeiter einfach einzufordern und schlichtweg zu erwarten, dass sie Dir von wichtigen Problemen berichten. Schließlich ist das ja ihr Job!

Alle Mitarbeiter zu ermahnen, offen zu sprechen, mag ein ethisches Argument sein, aber keine sinnvolle Strategie, positive Ergebnisse zu erzeugen.

Psychologische Sicherheit positiv beeinflussen

Auf einen „Akt des Mutes“ zu bestehen (Stichwort Scrum Werte), verschiebt die Last zu Ungunsten des Individuums, ohne die Bedingungen zu erzeugen, unter denen Psychologische Sicherheit entstehen kann.

Deshalb habe ich nachfolgend einige hilfreiche Tipps und Strategien für Dich zusammengestellt, die Du dazu nutzen kannst, Psychologische Sicherheit und eine Kultur des Lernens zu fördern.
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Kennst Du noch andere Techniken und Methoden, die geeignet sind, um Psychologische Sicherheit zu fördern?x

Etabliere eine neue Fehlerkultur

Der erste wichtige Schritt ist es, in Deinem Team oder Deiner Organisation eine bessere Fehlerkultur zu etablieren. Dazu ist es auch notwendig zu unterscheiden, denn nicht jeder Fehler ist gleich. Amy Edmondson unterscheidet zwischen vermeidbaren, komplexen und intelligenten Fehlern. (Auf hbr.org findest Du dazu einen tollen Artikel von ihr inklusive eines sehr sehenswerten Interviews.)

Allerdings finde ich ihre Unterscheidung nicht ganz passend, weil Edmondson meiner Ansicht nach den Begriff Komplexität nicht so verwendet, wie es in der agilen Community üblich ist. Deshalb will ich Dir eine andere Unterscheidung vorschlagen. (Auch um potenzielle Verwirrung zu vermeiden.)

Beginne damit, in Deinem Team zwischen Fehlern und Irrtümern zu unterscheiden.

Fehler

Fehler entstehen unter einfachen oder komplizierten Umständen. Wenn Du den Lichtschalter reparierst, ohne vorher den FI-Schalter umzulegen, ist das beispielsweise ein Fehler (unter einfachen Bedingungen). Wenn Du Dir ein neues Auto kaufst, ohne zuvor gemeinsam mit Deiner Familie überlegt zu haben, welche Features und Merkmale des Autos für Euch besonders wichtig sind, wirst Du wahrscheinlich ebenfalls Fehler begehen. (Auch wenn die vorherige Analyse Eurer Kriterien sicherlich kompliziert ist.)

Irrtümer

Irrtümer hingegen entstehen in komplexen Situationen. Also immer dann, wenn eine vorherige Analyse unmöglich ist. Wenn Du mit dem Auto unterwegs bist und die Wahl zwischen zwei verschiedenen Routen hast, sich jedoch auf der von Dir gewählten Strecke plötzlich eine Baustelle befindet, war das ein Irrtum und kein Fehler. Im Unterschied zu Fehlern sind Irrtümer schlichtweg unvermeidbar.

Trotz der Unterscheidung zwischen Irrtümern und Fehlern solltest Du eines nicht vergessen. Beide produzieren Ergebnisse, die niemand möchte. Aber beide sind auch immer eine Gelegenheit für jede Organisation, jedes Team und jeden einzelnen, hinzuzulernen und besser zu werden. Sie unterscheiden sich lediglich darin, dass sie entweder vermeidbar oder unvermeidbar sind.

Betone die Wichtigkeit von Transparenz

Zweitens ist es wichtig, allen Beteiligten klar zu machen, warum es so wichtig ist, offen über Fehler und Irrtümer zu sprechen.

Es muss jedem klar sein, dass Komplexität eine Wechselwirkung erzeugt, die nur durch eine gute Kommunikation gelöst werden kann. Das führt auch dazu, dass Du als Führungskraft schlichtweg nicht mehr in der Lage bist, alles zu wissen und auf jedes Problem die passende Antwort geben zu können. Deshalb geht es auch nicht darum, dass Deine Mitarbeiter einfach das tun, was Du ihnen sagst.

Agile Führung bedeutet, dass Du als Führungskraft eine klare Richtung vorgibst. Du kannst das jedoch nur dann tun, wenn Du von allen die notwendigen Informationen erhältst. Es ist deshalb auch Deine Aufgabe, eine Klima zu erzeugen, das Psychologische Sicherheit fördert, um einen möglichst ungehinderten Fluss von Informationen zu ermöglichen.

Eine Möglichkeit, das zu erreichen, ist der Humble-Inquiry-Ansatz von Edgar Schein.

Zeige Demut & stelle Fragen (aus echter Neugier und Interesse)

Hinter Edgar Scheins Ansatz Humble Inquiry stecken zwei wesentliche Grundelemente. Zum einen Demut (Humility) und zum anderen Befragung (Inquiry).

Sein Modell geht davon aus, dass gesellschaftliche Strukturen und soziale Systeme dazu führen, dass wir (automatisch) Demut gegenüber Menschen auf höheren Hierarchiestufen entwickeln. Das führt dann dazu, dass wir wichtige Informationen (oder Probleme) nicht weitergeben. Diesen Zustand bezeichnet Schein auch als Basic Humility.

Komplexität kehrt diesen Zustand jedoch um, sodass Du als Führungskraft viel stärker von ihren Mitarbeitern abhängig bist als umgekehrt. Hierdurch kommt es zu Situationen, in denen die sogenannte Here-and-Now-Humility notwendig wird. Was – vereinfacht gesagt – nicht mehr bedeutet, als das jeder von jedem anderen unter gewissen Umständen abhängig ist. Der erste Schritt für Dich ist es daher, Demut zu zeigen.

Problematisch wird das Ganze jedoch dadurch, dass sich – ganz besonders in westlichen Gesellschaften – eine Kultur des Tellings etabliert hat. Wir finden es einfach vollkommen normal, dass Führungskräfte anderen sagen, was sie zu tun haben. Und das gilt sowohl für die Führungskraft selbst als auch für deren Mitarbeiter. Wenn Du jedoch immer nur Anweisungen gibst, degradierst Du Deine Gesprächspartner zum passiven Informationsempfänger.

Nach Edgar Schein kannst Du diesen Zustand nur auflösen, indem Du Fragen stellst. Und zwar nicht, weil Du mal auf einem Führungskräfte-Seminar gelernt hast, dass Du immer schön brav Fragen stellen sollst, sondern weil Du wirklich hören möchtest, was andere Dir zu sagen haben. Deshalb nennt Edgar Schein Humble Inquiry auch Fragen aus echter Neugier und Interesse.

Institutionalisiere Prozesse & Strukturen

Ein weiterer wichtiger Schritt ist es, die Partizipation aller Mitarbeiter zu institutionalisieren. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, dass Du in Deiner Organisation Strukturen verankerst, die dazu geeignet sind, Mitbestimmung zu ermöglichen. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist beispielsweise Googler 2 Googler. Aber für den Anfang kann auch ein sogenanntes Soundingboard hilfreich sein. Ebenfalls gut geeignet ist ein Open Space, der im Gegensatz zum Barcamp auch die Umsetzung der dort erarbeiteten Themen verfolgt.

Wichtig ist, dass diese Strukturen und Prozesse auch wirklich ernst gemeint sind und kein Business Theater sind, von dem jeder weiß, dass die wirklichen Entscheidungen ohnehin woanders getroffen werden.
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Habt Ihr in Deiner Organisation gute Erfahrungen mit Partizipation gemacht? Welche Strukturen habt Ihr etabliert?x
  • Falls Du Dich intensiver mit dem Thema Partizipation in Organisationen beschäftigen möchtest, solltest Du auf jeden Fall die Seite der Unternehmensdemokraten besuchen. Es lohnt sich!

Drücke Wertschätzung aus (immer)

Wertschätzung für einen Hinweis, eine Frage oder eine Bemerkung auszudrücken ist die wichtigste erste Reaktion, um Psychologische Sicherheit zu fördern. Im Grunde sogar ein sehr einfach umzusetzender Tipp, der jedoch erfahrungsgemäß nur selten beherzigt wird. Wertschätzung ist so etwas wie eine Mini-Belohnung für jede Information, die an Dich herangetragen wird.

Wertschätzung auszudrücken ist auch nicht gleichbedeutend mit Zustimmung. Genau deshalb solltest Du stets Wertschätzung ausdrücken, ganz unabhängig davon, ob die Information wertvoll, hilfreich, dumm oder sogar vollkommener Quatsch war. Sie zeigt, dass es Dir wichtig ist, Meinungen anderer zu hören und erhöht die Chance, dass wichtige Informationen an Dich herangetragen werden.

Entstigmatisiere Fehler

Das eigentliche Grundproblem mit Fehlern (und Irrtümern) ist, dass wir nicht gerne über sie sprechen. Niemand macht gerne Fehler. In unserer Wahrnehmung sind sie etwas Negatives. Etwas, dass wir vermeiden wollen. (Manche denken sogar, echte Talente würden gar keine Fehler machen.)

I’m not pro failure, I’m pro learning.

Viele sind deshalb der Ansicht, man solle Fehler auch nicht feiern. (Erst kürzlich hat dazu Ralf Kruse auf LinkedIn einen Beitrag dazu geteilt.) Das Problem ist nur: Diese negative Sicht auf Fehler führt dazu, dass wir gar nicht erst darüber sprechen. Nicht mit irgendjemandem und schon gar nicht mit unserem Chef. Aber je schwerwiegender ein Fehler ist, desto wichtiger ist es, dass möglichst viele Menschen davon erfahren. Damit sie davor bewahrt werden, den gleichen Fehler zu begehen. Gleichzeitig ist die offene Kommunikation über schwere Fehler auch ein Signal an jeden Menschen innerhalb Deiner Organisation, weil sie vermittelt, dass ein positiver Umgang mit Fehlern kultiviert wird und niemand gefeuert wird, weil er Dinge anspricht, die nicht so sind, wie sie sein sollten.

Wenn Du es aus dieser Perspektive betrachtest, erfüllen die bekannten Fuckup Nights einen sehr wichtigen Zweck: Sie erschaffen eine Art Schutzraum, in dem unbefangen über Fehler gesprochen werden kann. Sie erzeugen Psychologische Sicherheit.

  • Leonid Lezner hat zum Thema Scheitern und Feiern vor einigen Jahren eine prima Folge in seinem Podcast Firmenfunk geteilt.

Sanktioniere klare Verletzungen

Ein konstruktiver Umgang mit Fehlern und Irrtümern und eine konstruktive Lernkultur bedeuten nicht, dass man für gravierende Verstöße auch noch gefeiert wird. Niemand würde einen Intensivpfleger, der absichtlich Sicherheitsvorgaben missachtet, auch noch dafür beklatschen. Tatsächlich fördert eine klare Reaktion auf schwere Vergehen sogar Psychologische Sicherheit. Einfach aus dem simplen Grund, weil sie für alle Beteiligten signalisiert, dass es ein Unternehmen mit seinen Werten und Prinzipien auch wirklich ernst meint.

Ist Psychologische Sicherheit messbar?

Die kurze Antwort: Ja, ist sie! Die Forschung zur Psychologischen Sicherheit existiert bereits seit über 20 Jahren und steht wissenschaftlich auf einem guten Fundament. Mittlerweile hat Amy Edmondson vier unterschiedliche Fragebögen entwickelt, die Du auch in ihrem Buch The Fearless Organization finden kannst.

  • Mit dem PsySafety-Check existiert seit 2020 auch eine leicht umzusetzende deutschsprachige Version.

Wie kannst Du mehr über Psychologische Sicherheit erfahren?

Ich freue mich, dass Dir mein Artikel Lust auf mehr gemacht hat! Mehr über Psychologische Sicherheit erfährst Du in folgenden Büchern:

Podcasts zum Thema Psychologische Sicherheit

Hörenswerte Podcasts
Wenn Du gerne Podcasts hörst, gibt es auch hier einige hörenswerte Folgen, die Du auf keinen Fall verpassen solltest.
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Kennst Du noch andere hörenswerte Podcasts zum Thema Psychologische Sicherheit, die ich ergänzen sollte?x
  • Martin Hoffmann hat eine spannende Podcastfolge mit Laura Creon in seinem Podcast NeueBlickrichtung aufgenommen (34:58)

  • Michael May von der MayFlower GmbH war zu Gast bei Mein Scrum ist kaputt und erzählt auch dort Interessantes zu Psychologischer Sicherheit. (64:00)

Fragen, Anregungen, Kritik und Meinungen

Ich hoffe, mein Artikel hat Dir geholfen, das Konzept der Psychologischen Sicherheit besser zu verstehen und Dir ist die Wichtigkeit des Themas für agile Teams und eine ausgeprägte Innovationskultur klarer geworden. Vielleicht hast Du ja noch Fragen, Kritik oder Ergänzungen? Dann schreib mir gerne unten auf der Seite einen Kommentar!