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Die meisten Unternehmen und Organisationen haben verstanden, dass sie der wachsenden Komplexität ihres Marktes mit agilen Methoden begegnen müssen. Gleichzeitig versäumen sie es jedoch, ein neues Verständnis von Führung zu etablieren, das nicht mit der neuen Art zu arbeiten in Konflikt steht. In diesem Artikel zeige ich Dir, wodurch die Probleme genau entstehen und warum Humble Inquiry einen wichtigen Baustein für agile Führung darstellt.

Die Kultur des Anweisens

Telling Mode - Humble Inquiry

Einerseits haben eigentlich alle Unternehmen erkannt, dass Perspektivenvielfalt und Diversität ein wichtiger Schlüssel für den Umgang mit Komplexität sind. Weil sie intuitiv wissen, dass es den einen Superhelden, der auf alle Probleme stets die passende Antwort hat, unter diesen Umständen schlichtweg nicht mehr geben kann.

Du kannst das leicht daran erkennen, dass im Grunde jede Organisation mit dem Einsatz agiler Methoden auf die zunehmende Komplexität ihres Marktes reagiert.

Scrum, Kanban oder OKR gehören mittlerweile zum Standard jedes Unternehmens, das etwas auf sich hält. Alle möchten weg vom Silodenken und hin zu kleinen, agilen Teams, die permanent Nutzen für ihre Kunden produzieren.

Andererseits existiert mit dem Verständnis von Hierarchie und Führung in den gleichen Unternehmen eine anti-agile Parallelwelt. Sie sind nach wie vor davon überzeugt, dass Vorgesetzte mehr wissen oder können (müssen) als ihre Mitarbeiter. (Weshalb sollten sie auch sonst befördert worden sein?) „Folgerichtig“ gehen sie deshalb auch davon aus, dass Informationen vorrangig von oben nach unten fließen (sollten), da sich oben die wichtigsten Informationen (und Antworten) befinden.

Das Resultat dieser Denkweise ist eine Kultur des Anweisens. Menschen, die auf der Hierarchiestufe oben stehen, sagen denen, die weiter unten stehen, was sie wie zu tun haben.

Aber diese anti-agile Parallelwelt stimmt nicht mit der Realität überein. Denn die Informationen über Probleme und Herausforderungen sind zwar in einer Organisation vorhanden, sie befinden sich jedoch auf den unteren Hierarchie-Ebenen und nicht auf den oberen. Sie werden nur nicht nach oben weitergegeben. Oder falls sie doch weitergegeben werden, werden sie entweder ignoriert oder man geht einfach drüber hinweg.

Befragst Du hierzu Führungskräfte, sagen natürlich alle, dass sie immer ein offenes Ohr für ihre Mitarbeiter haben und jede Information ernst nähmen. Die Mitarbeiter des Unternehmens werden das erfahrungsgemäß ganz anders sehen. Sie werden Dir sagen, dass sie sich nicht sicher genug fühlen, ihren Chefs schlechte Neuigkeiten mitzuteilen. Oder dass sie es zwar getan hätten, aber nie eine Antwort erhielten.

Das Grundprinzip von Humble Inquiry

Die Kultur des Anweisens ist für einen guten Fluss von Informationen problematisch. Etwas mitzuteilen erniedrigt die Person, die diese Mitteilung erhält. Denn sie impliziert, dass Du einer anderen Person etwas mitteilst, das sie noch nicht weiß, aber Deiner Ansicht nach wissen sollte. Diese Annahme trifft jedoch sehr häufig gar nicht zu.

Durch Humble Inquiry brichst Du diese eindimensionale Richtung in der Kommunikation auf, indem Du dazu übergehst, Fragen zu stellen statt etwas mitzuteilen.

Fragen zu stellen gibt Deinem Gesprächspartner (temporär) mehr Macht während der Unterhaltung, während es Dich selbst verwundbar machst. Denn Fragen zu stellen impliziert, dass Dein Gesprächspartner etwas Wichtiges weiß, das Du wissen solltest. Es gibt ihm die Möglichkeit, Dich zu verletzen oder Dir zu helfen. Er könnte sich beispielsweise darüber lustig machen, dass Du etwas nicht weißt oder Deine Frage sogar ignorieren. Oder er beantwortet Dir Deine Frage und hilft Dir dabei, mit den neuen Informationen eine bessere Entscheidung zu treffen.

Der Grundgedanke von Humble Inquiry ist es also, eine funktionierende zwischenmenschliche Beziehung zu etablieren. Und wenn das Dein Ziel ist, dann musst Du zunächst investieren. Durch Humble Inquiry investierst Du Aufmerksamkeit.

Deine Frage signalisiert, dass Du bereit bist, jemandem zuzuhören. Gleichzeitig macht sie Dich selbst verwundbar. Du erhältst jedoch etwas zurück, wenn die andere Person Dir etwas mitteilt, das Du noch nicht wusstest und wissen solltest. Wenn Du so möchtest stellen Frage & Antwort kleine Mikrointeraktionen dar, die Vertrauen aufbauen.

  • Vertrauen bildet sich bei Dir, weil Du Dich selbst verwundbar gemacht hast und Dein Gesprächspartner keinen Vorteil daraus gezogen hat. (Zum Beispiel, indem er sich über Dich lustig gemacht hat.)

  • Vertrauen bildet sich bei Deinem Gesprächspartner, weil Du echtes Interesse gezeigt hast und aufmerksam warst für das, was Dir gesagt wurde.

Arten von Humility

Humility im Sinne von Edgar Schein bedeutet zunächst einmal nichts anderes, als dass Du jemand anderem einen höheren Status als Dir selbst zugestehst. Um Humble Inquiry verstehen zu können, ist es deshalb wichtig, dass Du zwischen drei verschiedenen Arten von Humility unterscheidest.

Basic Humility

Basic Humility

Basic Humility bedeutet, dass der höhere Status durch Geburt, soziale Position oder andere gesellschaftliche Normen erzeugt wird.

Wichtig ist hierbei, dass Du zwar grundsätzlich die Option hast, den höheren Status nicht anzuerkennen, aber Deine Meinung dazu gewissermaßen irrelevant ist, da es sich um eine gesellschaftliche Norm handelt.

Falls Du Dich also beispielsweise dazu entscheidest, den Status solcher Personen zu missachten und gesellschaftliche Konventionen zu ignorieren, kannst Du das zwar tun, musst aber mit entsprechenden Reaktionen oder schlimmstenfalls Strafen rechnen.

Optional Humility

Optional Humility

In Gesellschaften, in denen Status vorrangig durch erreichte Leistungen entsteht, vergeben wir diesen höheren Status sozusagen selbst. Indem wir die Leistung eines Menschen anerkennen, ihn bewundern und ihm die (unserer Meinung nach) gebührende Anerkennung zukommen lassen. Im Gegensatz zur Basic Humility gibt es jedoch hier keine gesellschaftliche Konvention.

Optional Humility kannst Du sozusagen zeigen oder nicht zeigen.

Es gibt eine Menge unterschiedlicher Referenzgruppen innerhalb einer Gesellschaft, aus denen Du sozusagen „auswählen“ kannst. Und je nachdem, welcher Gruppe Du Dich zugehörig fühlst, hat das Einfluss auf die Optionen, die Du wählst.

Here-and-now Humility

Here-and-now-Humility

Wie der Name bereits impliziert, bezieht sich die Here-and-now Humility auf die Art von Demut, die situationsbedingt im Hier und Jetzt entsteht beziehungsweise notwendig wird.

Sie bedeutet, dass Du in bestimmten Situationen einen niedrigeren Status hast als Dein Gegenüber.

Vielleicht musst Du eine wichtige Aufgabe erledigen, aber weißt nicht genau, wie Du dabei vorgehen sollst. Oder Du bist eine Führungskraft, besitzt jedoch nicht alle wichtigen Informationen. Die Situation erzeugt also eine temporäre Abhängigkeit.

Dabei ist es auch irrelevant, ob Du Dir als Führungskraft diese temporäre Abhängigkeit eingestehst, sie ist in jedem Fall vorhanden. Tatsächlich kann es sogar gut sein, dass Dir Deine Abhängigkeit gar nicht bewusst ist, weil sie quasi unsichtbar für Dich ist. Du bemerkst nicht, dass Du von Deinen Mitarbeitern abhängig bist, weil Du von falschen Annahmen ausgehst oder Dir Informationen fehlen. In solchen Fällen ist Dir nicht bewusst, auf wie viele verschiedene Arten Deine Mitarbeiter Informationen vor Dir verbergen können, die Du eigentlich dringend benötigst. (Und es wäre dumm, anzunehmen, dass jemand Dir immer alle Informationen gibt, nur weil es in seiner Jobbeschreibung steht.

Komplexität maximiert Situationen der temporären Abhängigkeit

Mit der Unterscheidung zwischen Basic Humility, Optional Humility und Here-and-now-Humility kannst Du das oben geschilderte Problem nun leicht identifizieren.

Die in einer Organisation vorhandene Hierarchie macht Basic Humility notwendig, da ein Vorgesetzter einen höheren Status hat. Komplexität hingegen macht Here-and-now-Humility notwendig. Denn sie führt ja dazu, dass sich mehr und mehr Informationen auf den unteren Hierarchiestufen befinden und Situationen der temporären Abhängigkeit im Grunde permanent auftauchen.

Inquiry Formen

Der Schlüssel, um diesen Zustand aufzubrechen, ist nach Edgar Schein die Nutzung von Fragen beziehungsweise Befragung (Inquiry). Natürlich ist es nicht ausreichend, „einfach nur Fragen zu stellen“. Schein unterscheidet deshalb zwischen vier verschiedenen Formen von Inquiry: Humble Inquiry, Diagnostic Inquiry, Confrontational Inquiry und Process-oriented Inquiry.

Humble Inquiry

Humble Inquiry maximiert Deine eigene Neugierde und das Interesse an Deinen Gesprächspartner. Gleichzeitig minimiert Humble Inquiry Vorurteile und Vorannahmen über sie. Es geht darum, Deinen Gesprächspartner so wenig wie möglich in seiner Antwort steuern zu wollen und weder Thema noch Inhalt seiner Antworten zu kontrollieren.

Beispiele für Humble Inquiry

  • Was ist (denn) los?

  • Was bringt Dich hierher?

  • Kannst Du mir ein Beispiel geben…?

  • Erzähl mir mehr davon!

  • Und weiter?

Diagnostic Inquiry

Häufig kommt es dazu, dass Du von Deinem Gesprächspartner durch Humble Inquiry eine Information erhalten hast, die Deine Aufmerksamkeit weckt. Mit Hilfe von Diagnostic Inquiry kannst dann entscheiden, Dich gemeinsam mit Deinem Gesprächspartner auf dieses Thema zu fokussieren. Dieses Thema kann sich natürlich auf viele unterschiedliche Bereiche beziehen.

Gefühle und Reaktionen

  • Wie hast Du Dich dabei gefühlt? (Oder wie fühlst Du Dich jetzt damit?)

  • Wie hast Du reagiert als das passiert ist?

Gründe und Motive

  • Warum ist das passiert?

  • Warum hast Du Dich dabei so gefühlt?

  • Was war Deiner Meinung nach die Ursache dafür?

  • Woran lag das Deiner Ansicht nach?

Handlungsorientierung

  • Was hast Du bisher versucht?

  • Was wirst Du als nächstes tun?

Systemische Fragen

  • Was haben sie (hat er oder sie) dann getan?

  • Wie haben sich Deiner Meinung nach die anderen gefühlt, als Du das getan hast?

  • Was, glaubst du, wird er/sie als nächstes tun?

  • Wie hätten sie wohl reagiert, wenn Du ihnen gesagt hättest, wie Du Dich fühlst?

Confrontional Inquiry

Confrontional Inquiry geht noch einen Schritt weiter als Diagnostic Inquiry. Mit dieser Art von Fragen steuerst Du sowohl das Thema als auch den Inhalt des Gesprächs, sodass Confrontional Inquiry meistens nur eine Mitteilung in Gewand einer Frage ist.

Beispiele für Confrontational Inquiry

  • Hat Dich das wütend gemacht? (Gefühle und Reaktionen)

  • Glaubst Du, sie haben so reagiert, weil sie eingeschüchtert waren? (Gründe und Motive)

  • Warum hast Du den anderen das nicht gesagt? (Handlungsorientierung)

  • Waren die anderen überrascht? (Systemische Frage)

Process-oriented Inquiry

Die vierte Inquiry-Form bezieht sich auf das Gespräch, das Du gerade führst, und lenkt den Blick somit auf die Meta-Ebene. Auch sie lässt sich in verschiedene Kategorien einordnen, nämlich in Humble Process Inquiry, Diagnostic Process Inquiry und Confrontational Process Inquiry. Prozessorientierte Befragen liegt sozusagen „quer“ zu den anderen drei Inquiry-Formen.

Der Vorteil dieser Fragen liegt darin, dass sie die aktuelle Beziehung zwischen Dir und Deinem Gesprächspartner thematisieren und ihr dadurch gemeinsam herausfinden könnt, ob Ihr Eurem Ziel, Eure Beziehung zu verbessern, näher kommt (oder nicht). Es ermöglicht Euch, den Gesprächsprozess anzupassen und zu verändern.

Humble Process Inquiry

  • Was passiert hier gerade?

  • Geht (Dir) das zu weit?

  • Ist das zu persönlich?

Diagnostic Process Inquiry

  • Warum hast Du mir von Deinen Gefühlen erzählt?

  • Wonach sollte ich Dich Deiner Ansicht nach jetzt fragen?

Confrontational Process Inquiry

  • Warum verteidigst Du Dich jetzt, wenn ich Dir sagen möchte, wie ich mich fühle?

  • Regt Dicht Dich das auf? Hab ich Dich aufgeregt?

  • Warum regst Du Dich so auf?

Humble Inquiry ist eine Frage der Haltung

Auch wenn ich mich bemüht habe, Dir für jede Inquiry-Form ein paar Beispiele zu geben, dienen diese natürlich nur der Veranschaulichung. Es geht ja nicht darum, dass Du nur noch und ausschließlich Fragen aus der Kategorie Humble Inquiry stellen sollst.

Faktoren abseits der Wortwahl

Humble Inquiry - Eine Frage der Haltung

Deine Haltung (echtes Interesse und Neugierde an der Perspektive Deines Gesprächspartners) äußert sich durch eine Vielzahl weiterer Faktoren wie Körpersprache, Stimmlage, Timing und dergleichen mehr. Auf diese hast Du viel weniger Einfluss (es sei denn, Du bist Schauspieler) als auf die von Dir gewählten Worte. Gleichzeitig ist jeder Deiner Gesprächspartner ein echter Experte darin, sie zu deuten.

Wenn Du also echtes Interesse und Neugierde nur vorspielst, wird Dein Gegenüber das an vielen anderen Signalen erkennen, unabhängig davon welche Worte Du gewählt hast.

Jede Frage kann Humble Inquiry sein

Umgekehrt bedeutet das aber auch etwas Gutes. Denn Dein Gesprächspartner wird auch wissen, dass Du ihm helfen willst, echtes Interesse an ihm zeigst und neugierig bist, seine Meinung zu hören. Selbst dann, wenn Du nicht die richtigen Worte gewählt hast.

Das bedeutet, dass Diagnostic Inquiry und selbst Confrontational Inquiry geeignet sein können, um Humble Inquiry zu praktizieren!

Jedoch muss es dabei Dein Bedürfnis sein, Deinem Gegenüber zu helfen. Du solltest Dich selbst fragen, was Deine Motive sind, bestimmte Fragen zu stellen. Ist es, weil Du wirklich neugierig bist, etwas zu erfahren oder liegt es vielmehr daran, das Du glaubst, bereits die richtige Antwort zu kennen.

Humble Inquiry ist also vielmehr eine Frage Deiner eigenen Haltung als eine Frage der Wortwahl.

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