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In diesem Artikel zeige ich Dir, wie Du auf Wardley Maps Inertia sichtbar machen kannst und wie Dir das helfen kann, bessere strategische Entscheidungen zu treffen. Der Begriff Inertia steht für die Trägheit von Organisationen, sich auf den Wandel um sie herum einzulassen und angemessen darauf zu reagieren. Je erfolgreicher ein Unternehmen bisher war, desto größer ist diese Trägheit. Oder mit Simon Wardleys Worten: Success breeds inertia and inertia kills.

Spoiler: Die spannendste Erkenntnis wird nicht sein, dass Unternehmen zu träge sind, um innovative Produkte zu entwickeln. (Das können die meisten von ihnen sogar ziemlich gut.) Vielmehr werde ich Dir heute zeigen, dass Unternehmen meistens die falschen Innovationen vorantreiben, weil sie ihre existierende Value Chain erhalten wollen. Der Grund dafür liegt in der erwähnten Inertia.

Climatic Pattern 5: Success breeds inertia

Erfolgreiche Produkte und Dienstleistungen sind das, was einem Unternehmen den Profit sichert. Unternehmen, die nicht ausreichend Umsatz machen, verschwinden von der Bildfläche. Deshalb versuchen die meisten Organisationen und Unternehmen natürlich, ihre heißgeliebte Cash Cow zu erhalten und die daraus entspringenden Gewinne weiter zu optimieren. Dagegen ist auch erst einmal nichts einzuwenden, solange wir sicher sein können, dass unsere aktuelle Wertschöpfungskette noch gesund und munter ist. Problematisch wird es, sobald neue Entwicklungen, Techniken oder Komponenten auf unserer Wardley Map erscheinen, die dazu führen werden, dass sich unsere Wertschöpfungskette verändern wird. Dann können wir uns Trägheit nicht leisten.

Rechts siehst Du, wie die Komponente Digitale Datenträger den Informationsträger Papier mittlerweile überholt hat und sich dadurch mehrere Komponenten unserer Wertschöpfungskette weiterentwickelten. Auch Inhalte haben sich mittlerweile zu Multimedia-Inhalten weiterentwickelt. Dadurch wurde eine digitale Enzyklopädie möglich.

Und tatsächlich betrat 1993 mit Microsoft Encarta ein neuer Mitspieler den Markt der Enzyklopädien.

Verlagshäuser wie Brockhaus hielten jedoch weiter am alten Medium fest: Brockhaus veröffentlichte die 20. Auflage seiner Enzyklopädie noch komplett analog!

Nun markieren wir diese Inertia mit einem dunkelroten Balken auf unserer Wardley Map und machen sie damit sichtbar. Man mag klassischen Verlagshäusern vielleicht noch keinen großen Vorwurf machen, dass sie zu diesem Zeitpunkt noch an ihrem bisherigen Modell festhielten. In den 90er-Jahren war es schließlich immer noch einfacher, kurz an das Bücherregal zu gehen, um sich eine Information zu holen, als mühsam den Rechner hochzufahren und Microsoft Encarta zu starten.

Climatic Pattern 6: Inertia increases the more successful the past model is

Leider war die immer größere Verbreitung von digitalen Datenträgern und Personal Computern nicht die einzige Entwicklung, mit der sich Hersteller von Enzyklopädien hätten beschäftigen sollten. Vier weitere Komponenten können wir mit Beginn des neuen Jahrtausends auf unserer Wardley Map einzeichnen:

  • Creative Commons (2001)

  • Kollaborationsplattformen (MediaWiki, 2002)

  • Smartphones (iPhone, 2007)

  • Internet (spätestens ab 2003)

Um die Jahrtausendwende hätten bei den Verlagen eigentlich alle Alarmglocken schrillen müssen. Doch statt sich mit den neuen Komponenten auf der Wardley Map zu beschäftigen, gab man sich lieber der eigenen Inertia hin und druckte fleißig einen weitere Auflage nach der anderen.

Noch 2005 wurde die 21. Auflage des Brockhaus auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert. Zwar gab es zusätzlich auf einem USB-Stick auch eine digitale Variante, am gedruckten Produkt hielt man jedoch weiterhin fest. (Zwei Jahre zuvor wurde übrigens die Wikimedia Foundation gegründet.)

Climatic Pattern 7: Inertia can kill an organisation

Die vier neuen Komponenten auf der Wardley Map führen zu einer zweiten Veränderung in der Value Chain und bringen nicht nur den Brockhaus-Verlauf, sondern auch Microsoft Encarta in Zugzwang. Die Inertia des Brockhaus-Verlags zeigt sich nun an mehreren neuen Stellen. Smartphones machen eine Aufwändiges Booten wie bei einem PC unnötig und in Kombination mit einer immer besseren Internet-Abdeckung wird always on möglich. Der weiter oben erwähnte Schnelligkeitsvorteil einer gedruckten Enzyklopädie gegenüber einem PC löst sich somit in Luft auf.

Die Komponente Digitale Datenträger wird – genauso wie Papier – überflüssig, denn Web-Kollaborationsplattformen wie MediaWiki machen den Zugriff auf Wissen über das Internet möglich.

Diese neuen Kollaborationsplattformen führen gleichzeitig zu einer Weiterentwicklung von Multimedia-Inhalten hin zu kollaborativ erstellten Multimedia-Inhalten. Ermöglicht werden diese kollaborativen Inhalte durch Creative Commons Lizenzen und eine Heerschar fleißiger Wikipedianer, die bezahlte Redakteure und Autoren ersetzen.

Ganz oben – nah beim User – wird dessen Wissensdurst nun weder über eine gedruckte (und sehr teure) Brockhaus-Enzyklopädie noch durch die digitale Enzyklopädie von Microsoft Encarta gestillt. Sondern über die kostenlos verfügbare Wikipedia.

Und wie reagierte Brockhaus auf diese Veränderung? Der Verlag überwindet zwar 2005 seine anfängliche Trägheit, baut aber gleich an mehreren anderen Stellen neue Trägheit auf: Der USB-Stick der 21. Brockhaus-Ausgabe war beispielsweise mit einem komplizierten Kopierschutz versehen und damit genau das Gegenteil von kollaborativ erstellten Inhalten mit CC-SA-Lizenz der Wikipedia. Wen wundert’s, dass es wenige Jahre später die ersten Beileidsbekundungen im Netz zu finden waren?

Climatic Pattern 7: Inertia can kill an organisation

Die neu entstandene Value Chain von Wikipedia (ohne Brockhaus und Microsoft Encarta), sieht damit folgendermaßen aus.

Inertia kills

Abschließend können wir feststellen, dass viele Unternehmen nicht unbedingt daran scheitern, neue Innovationen zu entwickeln. Sie scheitern viel häufiger an ihrer eigenen Trägheit, ihre bisherige Wertschöpfungskette zu verändern, obwohl diese bereits dem Untergang geweiht ist. Das gilt sowohl für Enzyklopädie-Verlage wie Brockhaus als auch für Firmen wie etwa Kodak.

Kodak brachte vor seinem Ableben nämlich durchaus noch Innovationen auf den Mark; beispielsweise das EasyShare Printer Dock 6000. Bei diesem Produkt war es möglich, eine Digitalkamera an einen Drucker anzuschließen und seine Photos auszudrucken. Dumm nur, dass man den wirklichen Bedarf der Kunden nicht verstanden hatte (oder wollte) und neue Produkte in erster Linie so entwickelte, dass die eigene Wertschöpfungskette erhalten blieb.

Simon Wardley

Despite popular claims, it’s rarely lack of innovation that causes companies to fail but inertia caused by pre-existing business models.

Simon Wardley, Medium

Zum Schluss noch einmal die bekannte Übersicht über Climatic Patterns, die ich bisher in meinen Wardley-Maps-Artikeln besprochen habe: