Servant Leadership ist ein häufig genutzter Begriff, wenn es darum geht, Grundprinzipien agiler Führung zu umschreiben. Wahrscheinlich ist er Dir auch schon im Zusammenhang mit der Rolle des Scrum Masters (oder Agile Coach) begegnet. Aber auch wenn die Idee hinter diesem Führungsansatz grundsätzlich einleuchtend ist, bleibt das gesamte Konzept oft relativ nebulös.
Mit diesem Artikel möchte ich Dir dabei helfen, die Idee hinter dienender Führung besser zu verstehen. Dazu gehe ich zunächst ein wenig auf die Ursprünge dieses Leadership-Ansatzes ein, um Dir daran anschließend eine Definition vorzustellen, was Servant Leadership nun genau ist. Außerdem findest Du in diesem Beitrag auch einen Überblick über die Wirkung, die dienende Führung in Teams und Organisationen erzeugen kann.
Ursprünge des Begriffs Servant Leadership
Die Ursprünge der Servant-Leadership-Bewegung gehen bis in das Jahr 1970 zurück.
In diesem Jahr veröffentlichte der ehemalige AT&T Manager Robert K. Greenleaf seinen 64-seitigen Aufsatz The Servant as Leader, mit dem er das Bild der dienenden Führungskraft prägte. (Und schon am Titel fällt auf, dass es in erster Linie um das Dienen geht, denn Greeleafs Werk heißt ja nicht The Leader as Servant.)
Inspiriert wurde Greenleaf dabei übrigens durch Hermann Hesses Erzählung Die Morgenlandfahrt und übertrug die Idee des Servant Leaders auf die Unternehmenswelt.

The Servant-Leader is servant first. . . . It begins with the natural feeling that one wants to serve, to serve first. Then conscious choice brings one to aspire to lead. . . . The best test, and difficult to administer is this: Do those served grow as persons? Do they, while being served, become healthier, wiser, freer, more autonomous, and more likely themselves to become servants? And, what is the effect on the least privileged in society? Will they benefit, or at least not further be harmed?
10 Eigenschaften eines Servant Leaders nach Spears
Greenleafs Aufsatz bleibt (bis auf das obige Zitat) jedoch ziemlich unklar, was Servant Leadership nun genau bedeutet und bietet kaum konkrete Anhaltspunkte. Das hat später dazu geführt, dass sein Führungsansatz von anderen weiter ausgearbeitet wurde.
Der bekannteste (aber nicht unbedingt beste) Versuch stammt dabei aus dem Aufsatz Character and Servant Leadership von Larry C. Spears, in dem er 10 Eigenschaften eines Servant Leaders definierte. (Spears war von 1990 bis 2007 Präsident und CEO des von Greenleaf gegründeten Center for Servant-Leadership, bis er dann 2008 The Spears Center for Servant Leadership gründete.)
Wildwuchs
Leider war Spears nicht der einzige, der sich um eine klare Definition bzw. Ausarbeitung des Servant-Leaderships-Ansatzes kümmerte. Über Jahre hinweg haben verschiedene Autoren den Begriff immer wieder erweitert und umgedeutet, sodass es ein ziemlich schillernder Begriff wurde.
Zwischenzeitlich existierten mehrere Dutzend Eigenschaften und Fähigkeiten, die unter diesem Führungsstil verstanden werden sollten, die sich noch dazu größtenteils inhaltlich überlagerten.
Was nicht für mehr Klarheit sorgte, was denn mit Servant Leadership überhaupt gemeint ist.

Definition von Servant Leadership
Ich möchte Dir aus diesem Grund die Definition von Dirk van Dierendonck für Servant Leadership vorstellen, weil ich sie für sehr klar halte. Van Dierendonck ist Professor an der Erasmus Universität in Rotterdam und beschäftigt sich dort intensiv mit dem Thema dienende Führung.
6 Charakteristika von Servant Leadership nach Dierendonck
In seinem Artikel Servant Leadership: A Review and Synthesis aus dem Jahr 2010 definiert van Dierendonck 6 Charakteristika bzw. Eigenschaften eines dienenden Führers, die ich Dir im Folgenden kurz vorstellen möchte.
Menschen befähigen & entwickeln
Die erste Eigenschaft eines Servant Leaders ist ihr Fokus auf die Befähigung und Entwicklung von Menschen. Eine dienende Führungskraft zielt darauf ab, proaktives Handeln und Selbstvertrauen in Menschen zu fördern und ihnen ein Gefühl von persönlicher Macht bzw. Kontrolle zu geben. Sie signalisiert deshalb stets, dass sie Menschen wertschätzt und fördert deren persönliche Entwicklung.
Darüber hinaus umfasst diese Eigenschaft jedoch auch, Menschen dabei zu unterstützen, selbstorganisiert bzw. selbstbestimmt zu arbeiten oder auch Informationen und Wissen mit anderen zu teilen. Damit leistet Servant Leadership auch einen Beitrag, um sogenanntes Knowledge Hiding in Teams zu reduzieren.
Demut
Demut beschreibt die Eigenschaft einer dienenden Führungskraft, die eigenen Leistungen und Talente ins rechte Licht zu rücken. Ein Servant Leader scheut sich deshalb nicht davor, nach der Perspektive anderer zu fragen, um von deren Ansichten profitieren zu können. Eine Fähigkeit, die angesichts hoher Komplexität und Ungewissheit der VUCA-Welt von unschätzbarem Wert ist.

Authentizität
Authentizität ist die dritte Eigenschaft eines Servant Leaders. Sie steht in engem Zusammenhang mit Integrität und der Einhaltung eines starken moralischen Kodex sowie der Fähigkeit, sich selbst (sowohl öffentlich als auch privat) treu zu sein. Authentizität bedeutet allerdings auch, dass ein Servant Leader seine Gefühlslagen, Stimmungen, Absichten und Verpflichtungen transparent und angemessen darstellen kann. Praktisch gesehen geht es hier beispielsweise auch darum, gemachte Versprechen und Zusagen einzuhalten.
Zwischenmenschliche Akzeptanz
Mit dem etwas umständlichen Begriff der zwischenmenschlichen Akzeptanz meint van Dierendonck die Fähigkeit einer dienenden Führungskraft, Gefühle anderer zu verstehen und Empathie zeigen zu können. Außerdem geht es beispielsweise darum, eine positive und offene Fehlerkultur zu fördern oder nicht nachtragend zu sein.
Servant Leader sorgen für eine Atmosphäre des Vertrauens, in der sich Menschen akzeptiert fühlen, Fehler machen dürfen und wissen, dass ihnen das nicht vorgehalten wird.
Richtungsweisend
Dieser Aspekt sorgt dafür, dass Mitarbeiter wissen, was von ihnen erwartet wird. Er steht also auch für Klarheit und Transparenz.
Im besten Fall gestaltet ein Servant Leader das Aufgabenfeld seiner Mitarbeiter so, dass diese weder über- noch unterfordert sind.
Richtungsweisend beinhaltet allerdings auch, dass ein Servant Leader (gemeinsam mit seinem Team) neue Wege und Lösungsansätze für alte Probleme entwickelt, die stark auf gemeinsamen Werten und Überzeugungen beruhen, weshalb auch Kreativität & Innovation dazugehören.

Treuhandschaft
Treuhandschaft (engl. Stewardship) ist auf den ersten Blick sicherlich eine ungewöhnliche Eigenschaft. Im Rahmen von Servant Leadership steht sie vor allem für die Bereitschaft einer Führungskraft, Verantwortung für eine größere Institution zu übernehmen und ihr zu dienen, statt eigene Interessen bzw. die eigene Karriere zu verfolgen. Servant Leader gehen mit gutem Beispiel voran und regen dadurch auch andere an, im gemeinsamen Interesse zu handeln.
Nach van Dierendonck sind unter Treuhandschaft jedoch auch Eigenschaften wie soziale Verantwortung, Loyalität und Teamwork zu verstehen.
Wirkung von Servant Leadership
Servant Leader erzeugen durch die oben genannten Eigenschaften und Haltungen eine Vielzahl positiver Effekte und Wirkungen, angefangen beim individuellen Verhalten am Arbeitsplatz bis hin zu einer verbesserten Teamleistung.
Individuelles Verhalten am Arbeitsplatz
Die stärkste (und wissenschaftlich am besten erforschte) Wirkung hat Servant Leadership auf das individuelle Verhalten am Arbeitsplatz. Im Englischen nennt sich das auch Organisational Citizenship Behaviour (OCB). Dienende Führung erzeugt dabei vor allem einen stärkeren Fokus auf die Gemeinschaft, Kollegen und sogar Kunden.
Darüber hinaus hat sie auch einen positiven Einfluss auf die gegenseitige Hilfsbereitschaft und erhöht sogar die Wahrscheinlichkeit, dass Mitarbeiter proaktiv handeln. (Beispielsweise wenn sie Probleme oder Herausforderungen erkennen.)

Höhere Mitarbeiterzufriedenheit
Zweitens führt Servant Leadership nachweislich zu einer höheren Mitarbeiter- bzw. Arbeitszufriedenheit (Job Satisfaction) und stärkerem Mitarbeiterengagement (Employee Engagement). Durch den starken Fokus dienender Führung auf die Befähigung, Förderung und Unterstützung von Mitarbeitern ist das allerdings auch nicht weiter verwunderlich. Allerdings bedeutet das nicht, dass ein Servant Leader nichts anderes als ein Feel Good Manager ist.
Commitment to Change
Interessanterweise hat Servant Leadership bei Mitarbeitern auch Auswirkungen auf ihre Bereitschaft zum Wandel (Commitment to Change). Gerade für Unternehmen, die sich mitten in einer agilen Transformation befinden, stellt dienende Führung deshalb einen extrem wichtigen Führungsstil dar.
Bessere Beziehungen zwischen Leader & Follower
Ein weiterer Aspekt, der Servant Leadership zu einem wichtigen Führungsstil macht, sind verbesserte Beziehungen zwischen Führungskraft und Mitarbeitern. Untersucht und belegt wurde dieser Zusammenhang beispielsweise in der Studie The impact of servant leadership dimensions on leader-member-exchange among health care professionals aus dem Jahr 2016.
Dabei stellte sich unter anderem heraus, dass Demut den stärksten Effekt auf eine positive Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeiter bewirkt.
Psychologische Sicherheit
Außerdem wirkt sich Servant Leadership positiv auf die Psychologische Sicherheit in den Teams einer Führungskraft aus.
Gerade für agil arbeitende Teams spielt dieser Aspekt natürlich eine Schlüsselrolle, weil er ein zentraler Faktor ist, um Lernen, Offenheit und eine positive Fehlerkultur zu etablieren.
Kreativität & Innovation
Sogar hinsichtlich der Innovationsfähigkeit von Teams und der Kreativität bei Mitarbeitern hat Servant Leadership einen nachweisbaren positiven Effekt. Dieser entsteht insbesondere dann, wenn eine starke Innovationskultur in Teams und Organisationen existiert, die dann durch Servant Leadership verstärkt wird.
Bessere Teamleistung & Performance
Die oben genannten positiven Effekte führen wenig überraschend dazu, dass Servant Leadership letztlich natürlich auch einen starken, positiven Effekt auf die Performance von Teams und Mitarbeitern erzeugt.
Wissenschaftliche Metriken
In der wissenschaftlichen Forschung existieren drei gut validierte Fragebögen, mit deren Hilfe sich Servant Leadership verlässlich messen und auswerten lässt.

Mehr über Servant Leadership
Wenn Du Dich tiefergehend mit dienender Führung beschäftigen möchtest, stehen Dir dazu viele Möglichkeiten offen. Für Deinen Start habe ich Dir hier noch die besten (mir bekannten) Bücher und Studien zu Servant Leadership zusammengestellt.
Wenn Du Dich eher praxisorientiert informieren willst, solltest Du auf die verlinkten Sachbücher zurückgreifen. Falls Du Dir auch ein theoretisch fundiertes Know-how aneignen möchtest, findest Du weiter unten auch Links zu Studien und Forschungsergebnissen.
Sachbücher
Es gibt diverse Bücher, die sich mit dem Thema Servant Leadership beschäftigen. Allerdings musst Du immer ein wenig aufpassen, über welche Version oder Variante von dienender Führung dort gesprochen wird. Die meisten Sachbücher beschäftigen sich mit der Variante von Larry Spears.
Wissenschaftliche Literatur & Studien
Falls Du Dich wissenschaftlich fundiert mit dem Thema Servant Leadership auseinandersetzen möchtest, habe ich hier noch drei Quellen für Dich verlinkt. Dabei habe ich mich auf Quellen konzentriert, die die bisherige Forschung zusammenfassen. Mit Hilfe dieser drei Quellen kannst Du viele weitere Studien entdecken, je nachdem wo Du Deinen Schwerpunkt setzen möchtest.
Fazit
Ich hoffe, ich konnte Dir mit diesem Artikel dabei helfen, die hinter Servant Leadership steckende Idee zu vermitteln und den Führungsstil für Dich besser fassbar zu machen. (Insbesondere durch die 6 Charakteristika aus der Definition van Dierendoncks.) Gerade für Scrum Master und agile Führungskräfte ist dieser Führungsstil von unschätzbarem Wert.
Falls Du noch Fragen, Ideen, Anregungen, Feedback oder auch Kritik zu diesem Artikel haben, freue ich mich wie immer auf Dein Feedback in den Kommentaren hier unten auf der Seite!