So manche Führungskraft packt das nackte Grauen, wenn die Transformation zu einer agilen Organisation beginnt: “Wo ist denn mein Platz, wenn mein Team plötzlich selbstorganisiert arbeitet!?” Spielt Führung in Scrum Teams, Organisationen und Unternehmen überhaupt noch eine Rolle? Von vielen Seiten wird das ohne Frage bejaht. Selbstverständlich brauche es Führung! Führung sei etwas ganz Natürliches und entstehe automatisch. (Quasi immer.) Aber im Grunde ist das nicht mehr als ein kaum oder gar nicht hinterfragter Glaubenssatz. (Genauso wie es ein fester Glaubenssatz vieler “Grauer Eminenzen” ist, dass demokratische Unternehmen nicht funktionieren können.) Die Frage ist also meist gar nicht ob, sondern nur noch wie Führung heutzutage aussehen sollte. Ich glaube, dass Führung in einer agilen Organisation sinnvoll sein kann – aber nicht muss. Und falls ja, dann dient die Führungskraft als Kristallisationskern.
Scrum und Team Flow
Ich möchte mich dem Thema agiler Führung einmal versuchsweise über das Team-Flow-Modell von Olaf-Axel Burow nähern. Burow definiert insgesamt sieben verschiedene Aspekte, die notwendig für erfolgreiches Teamwork sind. Nur wenn Dialog auf Augenhöhe (1), eine gemeinsam geteilte Vision (2), Vielfalt (3), Personenzentrierung (4), Partizipation (5) und Nachhaltigkeit (6) gegeben sind, können diejenigen Synergieprozesse (7) entstehen, die eine hohe Produktivität, Innovation und Motivation entstehen lassen.
Diese sieben Punkte des Team-Flow-Modells treffen perfekt auf jedes gut zusammenarbeitende, Scrum Team zu. Nur werden sie in Scrum anders genannt. Scrum spricht beispielsweise von interdisziplinären Teams statt von Vielfalt oder Personenzentrierung. Und wenn der Scrum Guide von Kollaboration spricht, ist das im Grunde nichts anderes als Dialog auf Augenhöhe und Partizipation. Das Team-Flow-Modell bietet also einen guten Erklärungsansatz dafür, warum agiles Arbeiten mit Scrum so gut funktioniert. Allerdings: Weder das Team-Flow-Modell noch der Scrum Guide spricht an irgendeiner Stelle von Führung. Brauchen wir sie also doch nicht?
Was wir brauchen, ist nicht Führung, sondern ein gemeinsames Ziel
Damit wir uns ans Werk machen, brauchen wir einen gemeinsamen Orientierungspunkt, der uns sagt, wo die Reise hingehen soll und warum wir die ganze Mühe überhaupt auf uns nehmen sollen. Ohne ein gemeinsames Ziel, das verfolgt wird, zerfällt ein Team, eine Abteilung oder ein ganzes Unternehmen in seine Einzelteile. Mit all seinen Konsequenzen.
Im Team-Flow-Modell finden wir diesen Gedanken als Vision bzw. als Produktorientierung wieder. Und auch agiles Produktmanagement mit Scrum besitzt diese Produktorientierung: Sie manifestiert sich im Produktziel und so gesehen auch im Product Backlog. Das Product Backlog ist ein lebendiges Artefakt, das sich permanent verändert und weiterentwickelt.
Überraschenderweise gibt es auch hier sehr viele Überschneidungen mit dem, was Olaf-Axel Burow über Vision und Produktorientierung in seinem Buch Team Flow schreibt:
Produktorientierung bedeutet, dass wir uns gemeinsam auf ein Ziel einigen, für dessen Erreichung wir unser kreatives Potenzial in gegenseitiger Anregung koordinieren und entwickeln wollen. Produktorientierung sollte aber andererseits nicht dazu verleiten, ein genau umrissenes Ziel zu früh verbindlich festzuschreiben. Eine solche Sicht verkennt, dass schöpferische Prozesse komplizierten Mustern folgen. […] Gleichermaßen selbstverständlich sind aber auch Phasen des Verwerfens und des Neuformulierens der Aufgabenstellung. (Team Flow, Seite 171)
Und das bringt mich auf meine anfängliche Aussage zurück:
Führung in einer agilen Organisation kann sinnvoll sein – muss sie aber nicht. Und falls ja, dann dient die Führungskraft als Kristallisationskern.
Falls es einem Team bereits gelingt, sich untereinander und im Dialog auf Augenhöhe auf ein gemeinsames Ziel zu einigen, dann hat es bereits eine Richtung – und braucht keine Führung mehr. Falls ein Scrum Team sich mit dem identifizieren kann, was im Product Backlog steht, dann besitzt auch ein Scrum Team bereits eine Richtung für sein Tun – und braucht keine Führung (im eigentlichen Sinne) mehr.
Die Führungskraft als Kristallisationskern
Kreative Felder, die die Basis für Team Flow sind, brauchen also eine gemeinsame Vision oder ein Produkt, um das sich ihre Arbeit dreht. Sozusagen als Nexus ihres Tuns. Nun kann aber durchaus der Fall eintreten, dass Personen diese Vision in ganz besonders eindrucksvoller Weise verkörpern. Die Person ist dann sozusagen die Vision. Simon Sinek beschreibt diesen Prozess in seinem Buch Start with Why ebenfalls sehr eindrucksvoll. Für Sinek sind diese besonderen Führungskräfte die Verkörperung des WARUMs eines Unternehmens:
Sie verkörpern ein Ziel, das alle um sie herum inspiriert. (Start with Why, Seite 103)
Olaf-Axel Burow nennt diese Menschen Kristallisationskerne:
Die Funktion des Kristallisationskerns kann von verschiedenen Mitgliedern des [kreativen] Feldes ausgefüllt werden, oft gibt es aber eine einzelne begeisterte Person den Anstoß zum Feldbildungsprozess. Diese Führungsfunktion fällt ihr zu, weil sie in der Lage ist, die Vision einleuchtend und anziehend zu vermitteln. Insofern könnte man auch sagen, dass sich das Feld aktiv seinen Kristallisationskern sucht. (Team Flow, Seite 173)
Und meiner Ansicht nach ist genau das eine Aufgabe, die einer Führungskraft von agilen Teams oder Organisationen zukommen kann. Die Führungskraft als Kristallisationskern kann dort ein Zentrum verkörpern, wo ein Team oder eine Organisation den oben erwähnten Nexus benötigt. In einem Scrum Team kann das beispielsweise auch der Product Owner sein. Wenn er sich mit dem Produkt ausreichend identifiziert, kann er sozusagen das lebendig gewordene Product Backlog werden.
Alles in allem bedeutet Führung in agilen Teams also etwas ganz anderes als in klassischen, hierarchischen Organisationen. In vielen Fällen ist sie überhaupt nicht mehr notwendig, da agile Teams sich selbst organisieren.