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Komplexität ist ein wichtiges Element, um die Gründe für agiles Arbeiten besser zu verstehen. Tatsächlich solltest Du nur dann auf agile Methoden (oder Frameworks) wie Scrum, OKR oder Kanban zurückgreifen, wenn Du mit Komplexität konfrontiert bist. Herausforderungen, die durch eine vorherige Analyse verstehbar sind und für die sich (vorab) ein Plan entwerfen lässt, sind für agiles Arbeiten eher ungeeignet.

Was genau hinter Komplexität steckt und wie Du sie erkennen kannst, erfährst Du in diesem Artikel. Dabei werde ich Dir zeigen, was Brettspiele und komplexe Herausforderungen gemeinsam haben und warum Du die beste Lösungsstrategie dafür schon längst kennst. Selbst dann, wenn Du noch nie etwas von Scrum gehört hast.

Definition von Komplexität

Komplexität ist ein recht schillernder Begriff und Du wirst viele verschiedene Definitionen dazu finden. In der Wikipedia heißt es dazu:

Komplexität (lateinisch complexum, Partizip Perfekt von complecti „umschlingen“, „umfassen“ oder „zusammenfassen“ bezeichnet das Verhalten eines Systems oder Modells, dessen viele Komponenten auf verschiedene Weise miteinander interagieren können, nur lokalen Regeln folgen und denen Instruktionen höherer Ebenen unbekannt sind. Bei dem Begriff handelt es sich um ein Kompositum aus der Präposition lateinisch cum „mit“, oder „zusammen mit“ und plectere „flechten“ oder „ineinanderfügen“ im Sinne von „verflochten“, „verwoben“.

Das ist natürlich erst einmal ein wenig sperrig zu lesen. Das Wichtigste an dieser Definition von Komplexität ist jedoch, dass „viele Komponenten auf verschiedene Weise miteinander interagieren können.“

Komplexe Systeme und Herausforderungen zeichnen sich also dadurch aus, dass (sehr) viele Elemente existieren, die sich gegenseitig beeinflussen, aufeinander reagieren und deshalb in einer Wechselwirkung untereinander stehen. Diese Wechselwirkung macht es unmöglich, sie ohne Weiteres zu durchschauen oder gar zu analysieren, da die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung sozusagen „versteckt“ ist.

Komplizierte und komplexe Systeme

Um Komplexität besser zu verstehen, ist es hilfreich, sie mit dem Begriff Kompliziertheit zu vergleichen. (Aber weil „Kompliziertheit“ nicht so schön klingt, werde ich im Folgenden von komplizierten Systemen oder Umgebungen sprechen.)

Komplexe und komplizierte Systeme haben grundverschiedene Eigenschaften, die unterschiedliche Lösungsstrategien notwendig machen.

Ich möchte Dir das am Beispiel eines umfangreichen LEGO-Modells und dem Legespiel Carcassonne verdeutlichen.

Lego als Beispiel für komplizierte Systeme

Ein großes LEGO-Modell mit mehreren tausend Teilen (beispielsweise das Schloss Hogwarts) ist ein hervorragendes Beispiel für ein kompliziertes System.

Durch die vielen Teile ist es sehr umfangreich und dadurch natürlich recht schwierig zusammenzubauen. Aber grundsätzlich ist es möglich, für den Zusammenbau dieses Modells einen Plan zu entwerfen. (Nämlich in Form einer Bauanleitung.)

Wenn Du diesen Plan befolgst, dann hast Du am Ende ein fertiges Modell, das genau dem entspricht, was vorne auf der Verpackung abgebildet ist.

LEGO als Beispiel für komplizierte Systeme

Carcassonne als Beispiel für Komplexität

Für komplexe Systeme hingegen ist es unmöglich, vorab einen exakten Plan zu entwerfen, der Dich sicher zum Ziel bringt. Tatsächlich lässt sich Komplexität (und der richtige Umgang damit) leicht mit jeder Art von Brettspiel erklären. Deshalb möchte ich es Dir hier anhand des beliebten Legespiels Carcassonne verdeutlichen. (Im Grunde kannst Du jedoch auch jede andere Art von Brettspiel als Beispiel für Komplexität nutzen. Ich habe Carcassonne lediglich gewählt, weil es sehr bekannt ist und ich davon ausgehe, dass Du weißt, wie es gespielt wird.)

Faktoren, die in Carcassonne Komplexität erzeugen

Wie jedes andere Brettspiel ist auch Carcassonne durch einen hohen Grad an Komplexität gekennzeichnet. Sie entsteht insbesondere durch drei Spielregeln:

  • In jedem Spielzug erhältst Du eine Spielkarte, die Du zuvor nicht kennst.

  • Jede gezogene Spielkarte bietet sehr viele Optionen, sie an die existierende Fläche anzulegen.

  • Du weißt nicht, wie Deine Mitspieler bzw. Gegner auf Deine Spielzüge reagieren werden.

Carcassone als Beispiel für Komplexität

Das heißt, jedes Mal wenn Du am Zug bist, bist Du dem Zufall ausgeliefert und musst mit dem arbeiten, was Du gezogen hast. Gleichzeitig erzeugt Dein eigener Spielzug bei Deinen Mitspielern Gegenreaktionen, weil sie Dich ja nicht gewinnen lassen wollen. Deshalb musst Du jedes Mal, wenn Du am Zug bist, die aktuelle Situation neu bewerten.

Im Gegensatz zum LEGO-Modell kannst Du bei Carcassonne keinen Plan entwerfen, wie Du bestimmte Legekärtchen zusammensetzen musst, um zu gewinnen. Oder wo Du Deine Spielsteine platzieren solltest oder wie Dein finales Königreich aussehen wird.

Carcassonne ist komplex, weil Du (besonders zu Beginn) nicht vorhersagen kannst, wie Deine Mitspieler reagieren werden.

Die beste Strategie, um Carcassonne zu gewinnen

Was ist nun die beste Strategie, um der Komplexität von Carcassonne zu begegnen?

Nun, zum Einen weißt Du ganz genau, wie Du Siegpunkte erzielen kannst. (Nämlich durch die Fertigstellung von Straßen, Burgen, Klöstern etc.) Die beste Strategie ist es also, möglichst bei jedem Deiner Spielzüge Siegpunkte zu erzielen. Denn jeder Spielzug, bei dem Du das nicht tust, birgt das Risiko, dass Dir ein anderer Spieler mit seinem eigenen Spielzug einen Strich durch die Rechnung macht.

Zum Anderen solltest Du keinen festen Plan entwerfen, da dieser ohnehin nicht funktionieren würde. Vielmehr ist es am sinnvollsten bei jedem Deiner Spielzüge Deine aktuelle Spielsituation neu zu bewerten, Deine gezogene Legekarte zu prüfen und dann auf Basis dieser Erkenntnisse, Deinen Spielzug durchführen. (Der Dir – wie oben erwähnt – im besten Fall direkt Siegpunkte einbringt.)

Beispiele für Komplexität in der „echten“ Welt

Komplexität, die eine umfassende vorherige Analyse und einen ausgefeilten Plan unmöglich macht, begegnet uns jedoch nicht nur bei einem Brettspiel, sondern auch in der echten Welt.

Wichtige gesellschaftliche und technologische Treiber, die Komplexität erzeugen, sind beispielsweise:

  • Digitalisierung

  • Globalisierung

  • Klimawandel

  • Corona-Pandemie

All diese Treiber führen dazu, dass Organisationen und Unternehmen (und natürlich auch Privatpersonen) mit einem hohen Grad an Komplexität konfrontiert werden, die umfangreiche Analysen oder ausgefeilte Pläne unmöglich und nutzlos machen.

Gleichzeitig sind sie leider jedoch immer noch die Standard-Antwort auf komplexe Herausforderungen. Das heißt, wir behandeln komplexe Systeme oder Herausforderungen so, als wären es komplizierte. Weil diese Lösungsstrategie jedoch nicht auf die Herausforderung passt, ist ein Scheitern vorprogrammiert.

Der richtige Umgang mit Komplexität

Im Grunde kennst Du die Lösung auf die Frage nach dem richtigen Umgang mit Komplexität bereits, denn sie steht im Abschnitt über das Legespiel Carcassonne. Weil ein ausgefeilter Plan und eine Analyse aufgrund hoher Komplexität unmöglich ist, solltest Du vielmehr:

  • Deine aktuelle Situation bestmöglich verstehen.

  • In kleinen Schritten denken.

  • Mit dem, was Du tust, sofort Wirkung erzielen.

  • Experimentieren, um herauszufinden, was funktioniert und was nicht funktioniert.

  • Durch diese Experimente schnell hinzulernen.

  • Neue Erkenntnisse dazu nutzen, Deine derzeitige Strategie schnell anzupassen.

Der Umgang mit Komplexität in Scrum

All diese Elemente sind fester Bestandteil des agilen Arbeitens. Egal, welches Framework oder welche agile Methode Du Dir näher anschaust: Sie alle helfen Dir dabei, exakt diese Lösungsstrategien umzusetzen. Ich möchte Dir das (kurz) am Beispiel von Scrum verdeutlichen.

  • Die sogenannten Scrum Artefakte helfen dabei, die bestmögliche Transparenz über die aktuelle Situation zu erzeugen.

  • Scrum Teams arbeiten in sehr kurzen Arbeitszyklen, die Sprints bzw. Iterationen genannt werden.

  • Ziel jedes Sprints ist es, am Ende Wert bzw. Nutzen für Kunden zu stiften.

  • Die Scrum Events unterstützen ein Scrum Team dabei, während des Sprints gewonnene Erkenntnisse dazu zu nutzen, den aktuellen Plan zu überprüfen und anzupassen.

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Product Backlog
Sprint Backlog
Inkrement
Sprint Planning
Daily Scrum
Sprint Review
Sprint Retrospektive

Scrum ermöglicht empirisches Vorgehen durch Transparenz, Überprüfung & Anpassung.

Wenn Du so möchtest, ist der Unterschied zwischen dem Scrum Framework und einer Partie Carcassonne gar nicht so groß. Gleichzeitig kannst Du daran auch erkennen, dass agiles Arbeiten gar nicht so schwer oder unbekannt ist, wie viele meinen.

Modelle & Frameworks, die sich mit Komplexität beschäftigen

Um Komplexität noch besser zu begreifen, existieren natürlich auch diverse Erklärungs- und Entscheidungs-Modelle. Die beiden populärsten sind das Cynefin Framework von Dave Snowden und die Stacey Matrix, die auf Ralph Douglas Stacey zurückgeht.

Cynefin Framework

Das Cynefin Framework von Dave Snowden unterscheidet zwischen geordneten und ungeordneten Systemen. Zu den geordneten Systemen gehören einfache und komplizierte. Zu den ungeordneten hingegen komplexe und chaotische Systeme.

Das Cynefin Framework hilft Dir dabei, Deine Herausforderung richtig zu einzuordnen und daraus die beste Strategie für Dein Vorhaben anzuleiten.

Cynefin Framework

Stacey Matrix

Die (agile) Stacey Matrix ist ein Hilfsmittel, mit der Du durch die Klarheit von Anforderungen (requirements) und Technologie (technology) ermitteln kannst, ob Deine Herausforderung einfach, kompliziert, komplex oder sogar chaotisch ist. Sie bezieht sich also direkt auf die verschiedenen Domänen des Cynefin Frameworks.

Allerdings solltest Du dabei im Hinterkopf behalten, dass die Stacey Matrix eine starke Wandlung durchgemacht hat und nicht mehr unbedingt dem entspricht, was ihr Urheber mit ihr beabsichtigt hatte.

Stacey Matrix

Fazit zum Thema Komplexität

Ich hoffe, ich konnte Dir mit meinen Beispielen zeigen, dass weder Komplexität noch agiles Arbeiten etwas ist, das ungewohnt, fremd oder unbekannt ist. Vielmehr kennen wir alle komplexe Systeme in Form von Brettspielen und dergleichen. Und auch wenn Du Dich noch nie mit Scrum oder anderen agilen Frameworks beschäftigt hast, kennst Du die richtigen Strategien und Vorgehensweisen bereits.

Das einzige, was dabei ungewohnt ist: Wir müssen die Strategien, die wir aus Spielen bereits kennen, auf die Geschäftswelt und die Entwicklung von Produkten übertragen.