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Wenn wir wir uns in einer komplexen Situation befinden, dann führt das dazu, dass wir uns bei jedem neuen Features eines Produktes nicht sicher sein können, ob das, was wir für den Kunden herstellen wollen, wirklich einen Nutzen stiftet. In diesem Artikel stelle ich Dir die vier Phasen des sogenannten Hypothesis Progression Frameworks (HPF) vor, mit denen Du vor der eigentlichen Produktentwicklung Hypothesen formulieren kannst, die später auch validierbar sind.

Was ist denn genau das Problem?

Häufig werden Produkte so entwickelt, als wüssten wir bereits, was sich der Kunde wünschen würde, wie er Erfolg bemisst und was seine täglichen Aufgaben und ToDo’s sind. Das gilt ganz besonders für die Firmen und Unternehmen, die auf ihre jahre- oder sogar jahrzehntelange Branchenerfahrung stolz sind, und dadurch eine große Trägheit entwickelt haben, Marktveränderungen zu erkennen. Statt regelmäßig mit ihren Kunden zu sprechen, gehen sie davon aus, bereits zu wissen, was ihre Kunden wollen – weil sie ja schon so lange (erfolgreich) im Geschäft sind.

Scrum Teams finden sich in solchen Unternehmen schnell in der Situation wieder, lediglich eine Liste gewünschter Features umsetzen zu müssen. Ob diese dann tatsächlich einen Mehrwert für Kunden und Nutzer darstellen oder wie man diesen gar messen könnte, ist zweitrangig. Die Folge sind aufgeblähte Produkte, die niemand haben möchte. (Schlimmstenfalls versucht man dann diesen Mangel mit neuen, weiteren Features zu kompensieren. Ganz nach dem Motto: Viel hilft viel.)

Echte Kundenorientierung mit dem Hypothesis Progression Framework

Das von Travis Lowdermilk und Jessica Rich entwickelte Hypothesis Progression Framework hilft Dir dabei, dieser Falle zu entgehen und Produkte zu entwickeln, die Kunden wirklich wollen. Es gliedert die Entwicklung Deines Produktes oder neuen Features in vier aufeinander folgende Phasen. Für jede dieser Phasen wird eine eigenständige Hypothese formuliert. Und erst dann, wenn Du Dir sicher bist, dass Du eine Hypothese bestätigt hast, gehst Du in die nächste Phase über, um dort wieder eine Hypothese zu formulieren, die validiert werden soll.

Das Interessante am HPF ist, dass es auf die Job-to-Be-Done-Methode zurückgreift und darüber hinaus mit dem Value Proposition Canvas von Alexander Osterwalder kompatibel ist.(Allerdings habe ich dazu die Begrifflichkeiten aus dem Hypothesis Progression Framework ein klein wenig angepasst.)

Die vier Hypothesen im Überblick

Phase 1: Kunden-Hypothese formulieren

Bevor Du mit der Entwicklung Deiner Value Proposition startest, solltest Du in Erfahrung bringen, was die wirklichen Aufgaben Deiner Zielgruppe sind und welche Ergebnisse sie sich dabei wünscht. Dazu formulierst Du eine Kunden-Hypothese, die folgendes Schema hat:

Wir glauben, dass [Customer Segment] [Customer Gain] erreichen möchte(n), wenn sie [Job to Be Done].

Das Customer Segment bestimmt, wer alles zu Deiner Zielgruppe gehört. Zusammengehalten wird sie durch den gemeinsamen Job to Be Done. (Und nicht dadurch, dass sie Kunden Deines Unternehmens sind.) Statt also zu formulieren

Wir glauben, dass [unsere Kunden] [Customer Gain] erreichen möchten, wenn sie [Job to Be Done].

solltest Du Deine Kunden-Hypothese so formulieren, dass klar wird, welche grundlegende Aufgabe dieses Customer Segment definiert. (Falls Du es für notwendig erachtest, kannst Du das Customer Segment noch mit einem Clarifier versehen.)

Wir glauben, dass [Schachanfänger] [Customer Gain] möchten, wenn sie [Job to Be Done].

Über die beiden anderen Elemente (Customer Gain und Job to Be Done) hältst Du fest, welche konkrete Aufgabe das Customer Segment zu lösen versucht und welches Ergebnis es sich dabei wünscht.

Wir glauben, dass [Schachanfänger] [häufiger gewinnen] möchten, wenn sie [Schach spielen].

Methoden, um eine Kunden-Hypothese zu validieren

Statt einfach davon auszugehen, dass diese Hypothese stimmt, nutzt Du nun einfache und kostengünstige Tests und Experimente, die Dir dabei helfen können, diese Annahme zu bestätigen oder zu widerlegen.

Mögliche Tests sind beispielsweise:

  • A Day in the Life

  • Discovery Survey

  • Web Search Analyse

  • Web Traffic Analyse

Phase 2: Problem-Hypothese formulieren

Wenn Du herausgefunden hast, welche Jobs to Be Done deine Zielgruppe erledigen muss bzw. möchte und welche Ergebnisse sie sich dabei wünscht, kannst Du den nächsten Schritt gehen. Nun untersuchst Du, mit welchen Herausforderungen und Problemen sie dabei konfrontiert ist. In der zweiten Phase geht es also darum, eine Problem-Hypothese zu formulieren:

Wir glauben, dass [Customer Segment] durch [Customer Pain] frustriert sind, wenn sie [Job to Be Done].

Für unser Schachanfänger-Beispiel könnte Deine Problem-Hypothese daher folgendermaßen lauten:

Wir glauben, dass [Schachanfänger] frustriert sind, weil sie bereits [früh in eine defensive Situation geraten], wenn sie [Schach spielen].

Methoden, um eine Problem-Hypothese zu validieren

Wenn Du in der vorhergehenden Phase bereits sorgfältig beobachtet hast, wirst Du sicherlich schon einige Customer Pains ohne weitere Tests & Experimente festhalten können. Trotzdem solltest Du Dir die Mühe machen, eine Hypothese zu formulieren, die sich auf das größte Problem bei der wichtigsten Aufgabe fokussiert. Auch hier gibt es jede Menge verschiedener Experimente, die Dir dabei helfen können:

  • A Day in the Life

  • Anfragen im Customer Support

  • Diskussions-Plattformen und -foren der Zielgruppe

Phase 3: Konzept-Hypothese formulieren

Erst nachdem Du die Jobs, Pains & Gains Deiner Kunden identifiziert hast (und die Ergebnisse auf Deinem Value Proposition Canvas festgehalten hast), bist Du in der Lage, Dir ein Konzept zu überlegen. In diesem Schritt geht es nicht darum, direkt mit dem Produkt zu beginnen, sondern einen ersten, sehr günstigen Prototypen zu entwerfen. Damit Du möglichst sicher bist, ob dieser auch wirklich funktioniert, formulierst Du nun eine Konzept-Hypothese, die mit einem messbaren Kriterium versehen ist.

Wir glauben, dass [Concept] [Customer Pain] lösen wird und daher wertvoll für [Customer Segment] ist, wenn sie [Job to Be Done].

Wir wissen, dass das wahr ist, wenn wir [Kriterium] sehen.

Unser Schachanfänger-Beispiel könnte hier vielleicht folgendermaßen lauten:

Wir glauben, dass [unser Schach-Ratgeber] das Problem [früh in eine defensive Situation zu geraten] löst und wertvoll für [Schachanfänger] ist, wenn sie [Schach spielen].

Wir wissen, dass das wahr ist, wenn wir [mit unserer Kickstarter-Kampagne das Funding-Ziel von 3.500 € erreichen].

Methoden, um eine Konzept-Hypothese zu validieren

Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, Deine Konzept-Hypothese mit Tests & Experimenten zu validieren. Wichtig ist, dass Du sie am besten stets mehrfach durch Tests überprüfst. Wobei Du den Aufwand der Tests fortlaufend steigerst und den Invest für Deine Zielgruppe permanent erhöhst, um die Genauigkeit Deiner Erkenntnisse zu verbessern. Es spricht also nichts dagegen, erst ein kurzes Produktvideo zu erstellen, das Dein Konzept vorstellt und danach eine Crowdunding-Kampagne zu starten, bei der Deine Zielgruppe verbindlich vorbestellt.

Hier eine kleine Auswahl an Möglichkeiten, um Deine Konzept-Hypothese zu validieren:

  • Broschüren, Flyer, Datenblätter

  • Crowdfunding-Kampagne auf Kickstarter (oder Startnext)

  • Erklärvideo

  • Online-Anzeige schalten

  • Vorverkauf

Phase 4: Feature-Hypothese formulieren

Hast Du in der vorherigen Phase bestätigt, dass Dein Konzept ausreichend Potenzial besitzt, kannst Du nun darangehen, einen konkreten Prototyp zu entwickeln, mit dem Du ein bestimmtes Feature umsetzt. Auch hier formulierst Du wieder eine Hypothese, die Du anhand messbarer Kriterien validieren kannst.

Wir glauben, dass [Customer Segment] erfolgreich [Customer Pain] lösen können, indem sie [Feature] nutzen, wenn sie [Job to Be Done].

Wir wissen, dass sie erfolgreich sind, wenn wir [Kriterium] sehen.

Führen wir unser bisheriges Beispiel fort, könnte die Feature-Hypothese folgendermaßen lauten:

Wir glauben, dass [Schachanfänger] erfolgreich das Problem lösen können, [früh in eine defensive Situation zu geraten], indem sie [unsere 10 goldenen Eröffnungsregeln] nutzen, wenn sie [Schach spielen].

Wir wissen, dass sie erfolgreich sind, wenn sie [80 % ihrer Spiele nicht bereits nach 8 Zügen verloren haben].

Methoden, um eine Feature-Hypothese zu validieren

Auch hier gibt es natürlich wieder eine Menge denkbarer Prototypen und Tests, mit denen Du Deine Hypothese überprüfen kannst. (Allerdings sind diese bereits viel realer und konkreter als in den vorherigen drei Phasen.) Auch hier ist die unten stehende Liste natürlich nur eine kleine Auswahl.

  • Single Feature MVP (Minimum Viable Product)

  • Concierge-Technik

  • Wizard of Oz Experiment

Fazit

Wie Du siehst, gibt es jede Menge Möglichkeiten, mit gut formulierten Hypothesen, klaren Kriterien und passend ausgewählte Experimenten, Tests & Prototypen die richtigen Erkenntnisse zu erlangen und Produkte und Services zu entwickeln.