In diesem Artikel stelle ich Dir die Heldenreise vor, mit der Du eine wirklich epische Retrospektive durchführen kannst. Sie ist zwar sowohl in der Vorbereitung als auch in der Durchführung etwas aufwändiger, aber dafür werdet Ihr mit einem Rückblick der ganz besonderen Art belohnt!
Abgesehen davon, ist das Format der Heldenreise etwas ganz Besonderes, sodass Du sie ohnehin nicht sehr häufig anwenden solltest. Die Mühe lohnt sich also!
Was ist eine Heldenreise?
Die Heldenreise geht auf den amerikanischen Mythenforscher Joseph Campbell zurück. Er untersuchte unzählige Mythen und Erzählungen und fand heraus, dass sie alle ein gemeinsames, grundlegendes Muster besitzen, das sich in verschiedenen Varianten wiederholt. Seine Ergebnisse fasste er anschließend in seinem Buch Der Held in tausend Gestalten zusammen.
TedEd-Video zur Heldenreise
Matthew Winkler hat bereits vor gut 10 Jahren ein tolles Video zur Heldenreise auf TedEd erstellt, das ich Dir an dieser Stelle nicht vorenthalten möchte, weil es die Heldenreise wirklich hervorragend erklärt.
Stationen einer Heldenreise
Falls Du die Heldenreise noch nicht kanntest, ging das wahrscheinlich alles ein klein wenig schnell. Deshalb hier noch einmal die insgesamt 12 Stationen im kurzen Überblick.
Wann eignet sich eine Heldenreise-Retrospektive?
Wie Du vielleicht schon bemerkt hast, eignet sich die Heldenreise gut für eine Retrospektive. Allerdings ist sie meiner Meinung nach nicht für eine “normale” Sprint Retrospektive geeignet. Es gibt eben auch ganz “normale Sprints”, die wenig aufregend sind, und sich deshalb nicht für eine Heldenreise eignen. Außerdem ist der Zeitraum von meistens 2 Wochen pro Sprint viel zu kurz für diese Art von Retrospektive.
Die Heldenreise eignet sich jedoch den Abschluss einer Iteration, die einen größeren Zeitraum umfasst. Du kannst sie beispielsweise sehr gut für OKR-Retrospektiven verwenden oder als Abschluss-Retrospektive eines großen (Kunden-)Projektes oder Transformationsvorhabens.
Ganz besonders hilfreich ist eine Heldenreisen-Retrospektive, wenn sich ein gesamtes Team auflöst. Denn häufig werden einzelne Teammitglieder bereits zu neuen Projekt- oder Produkt-Teams verschoben, wenn ein vorheriges Produkt nicht weiter fortgeführt wird. So entsteht oft ein schleichender Übergang. Das bisherige Team wird immer kleiner und kleiner, bis es “einfach nicht mehr existiert”. Was dann fehlt, ist eine Art sauberer Abschluss.
Ziel der Heldenreise-Retrospektive
Die Heldenreise-Retrospektive verfolgt drei grundsätzlich Ziele. Erstens macht sie die individuelle Veränderung jedes Teammitglieds sichtbar. Zweitens verdeutlicht sie, dass zwar das gesamte Team die gleiche Reise unternommen hat, aber jedes Teammitglied ganz persönliche Erlebnisse dabei hatte. Und drittens ermöglicht sie Euch einen positiven Abschluss, da sie den Fokus auf Eure individuelle Weiterentwicklung legt.
Individuelle Veränderung
Das Hauptziel ist es, bei jedem Teammitglied das Bewusstsein darüber zu schärfen, wie er oder sie sich selbst während der gemeinsamen Zusammenarbeit weiterentwickelt hat und diese individuelle Veränderung sichtbar zu machen. Deshalb beginnt die Heldenreise mit dem alten Ich (Prolog) und endet mit dem neuen Ich (Epilog) jedes Teammitglieds.
Gemeinsame Reise & persönliche Erlebnisse
Obwohl alle Teammitglieder an ein und demselben Projekt oder Produkt gearbeitet haben und eine gemeinsame Reise unternommen haben, hat jedes Teammitglied diese Reise sehr unterschiedlich erlebt. Durch die Heldenreise macht Ihr diese persönlichen Erlebnisse sichtbar.
Positiver Abschluss durch den Fokus auf individuelle Weiterentwicklung
Seien wir ehrlich: Nicht jedes Projekt und nicht jede Produktentwicklung endet mit einem großen Erfolg. Aber selbst bei Projekten, die nicht gut oder sogar sehr schlecht gelaufen sind, haben alle Beteiligten eine großes Bündel an neuen Erfahrungen sammeln können, die sie persönlich wachsen lassen haben.
Durch den Vergleich von altem und neuen Ich legst Du als Agile Coach den Fokus auf genau diese Weiterentwicklung und ermöglichst jedem Teammitglied einen positiven Umgang mit den gemachten Erfahrungen. (Selbst dann, wenn ein Projekt krachend gescheitert sein sollte.)
Wie Du eine Retrospektive mit der Heldenreise gestaltest
Im Folgenden möchte ich Dir einen (möglichen) Ablauf für Eure Heldenreise geben. Natürlich kannst Du sie anpassen und verändern, sodass sie für Deine Zwecke besser passt. Ich selbst habe die Heldenreise in einen Prolog und Epilog sowie drei thematische Blöcke unterteilt, damit die Retrospektive nicht in zwölf kleine Einzelteile zerfällt. Es steht Dir natürlich frei, jeden Abschnitt der Heldenreise einzeln mit Deinem Team durchlaufen, falls Du das möchtest.
Mein altes Ich (Prolog)
Zum Einstieg in die Heldenreise-Retrospektive gibst Du jedem Teilnehmer ausreichend Zeit, um sich Gedanken zu machen, wie er sein altes Ich aus heutiger Perspektive sieht. (Immerhin wird dieser Zeitpunkt schon eine ganze Weile her sein.)
Welche besonderen Fähigkeiten & Talente besaß die Person bereits damals, die dazu führten, dass sie zum Team hinzukam?
Welche Charaktereigenschaften besaß sie? Besaß er oder sie bereits damals eine Superkraft?
Lasse jedes Teammitglied mit Hilfe eines Bildes die gewohnte Umgebung visualisieren und jeden Retrospektiven-Teilnehmer ein Charakterbild beziehungsweise Avatar seines alten Ichs aussuchen oder selbst anfertigen. (Materialien dazu findest Du am Ende dieses Artikels.)
Gib jedem Deiner Retrospektiven-Teilnehmer 15 Minuten Zeit, sich Gedanken über sein altes Ich zu machen und seinen Charakterbogen auszufüllen. Gerade das Aussuchen von passenden Avataren und Bildern der alten (Arbeits-)Umgebung erfordert erfahrungsgemäß etwas mehr Zeit. Ich persönlich würde jedoch nicht darauf verzichten: Ein Bild sagt ja bekanntermaßen mehr als tausende Worte.
Wenn jeder Teilnehmer sein altes Ich skizziert hat, geht es darum, dieses auch für alle anderen Teilnehmer sichtbar zu machen. Hierzu solltest Du jedem Teilnehmer ein paar Minuten Zeit geben, sein Charakterblatt vorzustellen oder Du nutzt einen Gallery Walk, bei dem jeder Teilnehmer umhergehen, sich die erstellten Werke anschauen und eigenständig stöbern kann.
Aufbruch ins Ungewisse (1. Akt)

Habt Ihr die alten Ichs jedes Teilnehmers und seine vorherige Situation vorgestellt, geht die Heldenreise mit dem ersten Akt weiter: dem Aufbruch ins Ungewisse.
Diese Phase umfasst die ersten drei Schritte beziehungsweise Kapitel der Heldenreise: Ruf des Abenteuers, Mentor und das Überschreiten der Schwelle.
Händige dazu jedem Teilnehmer ein eigenes Heldenreisen-Blatt aus oder nutze die von mir erstellte Miro-Vorlage, falls Du die Retrospektive remote durchführst.
Natürlich kann dabei jeder Teilnehmer direkt auf sein Heldenreisen-Blatt schreiben, Post-its sind aber deutlich praktischer. Falls Ihr nämlich Post-its verwendet, könnt Ihr diese später auf einem großen Whiteboard (auf dem die Heldenreise groß abgebildet ist) clustern.
In diesem Fall solltest Du jedoch dafür sorgen, dass jeder einzelne Teilnehmer eine ihm zugeordnete Farbe hat. (Oder eine spezielle Post-it-Form.)
Gib jedem Teilnehmer der Heldenreise-Retrospektive 10 bis 15 Minuten Zeit, die Impulsfragen zu den ersten drei Stationen der Heldenreise für sich zu beantworten. Anschließend stellt jeder nacheinander seine Erlebnisse dazu vor und teilt sie mit dem gesamten Team.
Mögliche Impulsfragen zum 1. Akt der Heldenreise
Damit es den Teilnehmern Deiner Retrospektive etwas leichter fällt, den Beginn ihrer Heldenreise festzuhalten, habe ich hier einige Impulsfragen zu jedem Kapitel festgehalten. Natürlich kannst Du sie gerne erweitern, verändern oder auch kürzen, so dass es für Euch am besten passt.
1. Der Ruf des Abenteuers
2. Der Mentor
3. Überschreiten der Schwelle
Das Abenteuer beginnt (2. Akt)

Im zweiten Akt Eurer Heldenreise geht es thematisch um die Arbeit während des Projektes oder der Produktentwicklung.
Sie umfasst die Kapitel 4 bis 8: Erste Bewährungsproben, Finale & Endgegner, Krise, Erbeutete Schätze, Veränderungen & Ergebnisse.
Der Ablauf ist identisch mit dem vorherigen Akt. Gib jedem Teilnehmer wieder gut 15 bis 20 Minuten Zeit, seine Erinnerungen zu jedem der fünf Kapitel festzuhalten, um sie den anderen anschließend vorzustellen.
Wenn ihr möchtet, könnt Ihr die individuellen Ergebnisse auch direkt oder anschließend auf einem Whiteboard festhalten und entsprechend clustern. Das ist besonders spannend, wenn Ihr Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den persönlichen Wahrnehmungen sichtbar machen wollt.
Impulsfragen zum 2. Akt der Heldenreise
Auch für den zweiten Akt der Heldenreise habe ich wieder einige Impulsfragen für jedes der fünf Kapitel für Dich zusammengestellt.
4. Erste Bewährungsproben
5. Finale & Endgegner
6. Die Krise
7. Erbeutete Schätze
8. Veränderungen & Ergebnisse
Abschluss (3. Akt)

Im dritten Akt der Heldenreise-Retrospektive nähern wir uns langsam dem wirklich spannenden Teil. Gerade weil diese Bereiche in einer “normalen” Retrospektive oft ausgeklammert werden.
Wie bei den beiden vorangegangenen Akten gibst Du Deinen Teilnehmern wieder 10 bis 15 Minuten Zeit, sich Gedanken zu den Kapiteln Rückreise, Neues Leben und Auflösung zu machen.
Nachdem wieder jeder seine Ergebnisse vorgestellt hat, könnt Ihr diese auch wieder auf einem Whiteboard clustern und so Gemeinsamkeiten und Unterschiede visualisieren.
Mögliche Impulsfragen zum 3. Akt der Heldenreise
Falls Du Deinen Teilnehmern etwas Hilfestellung für diese Kapitel geben willst, habe ich auch hier wieder einige Impulsfragen für jedes Kapitel für Dich zusammengestellt.
9. Rückreise
10. Neues Leben
11. Auflösung
Mein neues Ich (Epilog)
Nachdem Deine Retro-Teilnehmer ihre Heldenreise durchlaufen haben, ist es an der Zeit die wichtigsten persönlichen Erkenntnisse und Veränderungen festzuhalten. Gib ihnen wieder gute 10 bis 15 Minuten Zeit, um das Blatt Mein neues Ich auszufüllen.
Lasse sie vor allem einen neuen Avatar auswählen, der ihre persönliche Weiterentwicklung visualisiert. Das Gleiche gilt natürlich auch für ihr neues Arbeitsleben.
Zum Abschluss der Heldenreise-Retrospektive werden altes und neues Ich eines jeden Teilnehmers einander gegenüber gestellt. Auf diese Weise könnt Ihr für jedes Teammitglied sichtbar machen, welche Weiterentwicklung es auf seiner ganz persönlichen Heldenreise gemacht hat.
Auch hier könnt Ihr wieder jedem einzelnen Teilnehmer Zeit geben, seine Ergebnisse vorzustellen oder Ihr heftet die Charakterblätter nebeneinander an eine Pinnwand und führt einen finalen Gallery Walk durch.
Wichtig ist jedoch , dass ihr altes und neues Ich miteinander in Kontrast setzt.
Materialien für Deine Heldenreise
Du hast natürlich unzählige Möglichkeiten, Eure gemeinsame Heldenreise zu gestalten, aber vielleicht benötigst Du ja einige Vorlagen, damit Du nicht alles selbst neu gestalten und vorbereiten musst.
Analoge Heldenreise
Wenn Du eine analoge Heldenreise planst, dann wirst Du eine ganze Menge an Materialien wie Charakter-Bilder für altes und neues Ich, Bilder oder Zeichnungen von alter und neuer Arbeitsumgebung etc. für Deine Teammitglieder benötigen.
Digitale Heldenreise
Alternatives Format: Die “kleine” Heldenreise
Vielleicht ist Dir die hier vorgestellte Heldenreise ja ein klein wenig zu aufwändig und umfangreich. In diesem Fall solltest Du Dir einmal die Hero’s Journey bei Funretrospectives anschauen. Sie benötigt deutlich weniger Vorbereitungszeit und weniger Material. (Dafür ist sie natürlich auch nicht so episch.) Allerdings eignet sie sich wiederum sehr gut für eine “handelsübliche” Sprint Retrospektive.
Viel Erfolg!
Zum Schluss wünsche ich Dir natürlich noch viel Erfolg und Spaß mit Eurer Heldenreise-Retrospektive! Ich hoffe, ich konnte Dich mit meinem Artikel ein wenig inspirieren, einmal eine “etwas andere Retrospektive” zu wagen. Natürlich freue ich mich wie immer über Meinungen, Feedback und Ergänzungen von Dir. Schreib mir einfach einen Kommentar unten auf dieser Seite.