Manche Teams werden so behandelt, als würden sie alles wissen und alles können – egal wie groß oder komplex die Aufgabe ist. Dabei vergessen wir gerne, dass die Wissensarbeit agiler Teams mit einer hohen kognitiven Belastung einhergeht. Die Cognitive Load Theory hilft Dir dabei, diesen Aspekt agiler Arbeit besser zu verstehen.
In diesem Artikel zeige ich Dir, was hinter dem Begriff Cognitive Load steckt, warum er bei komplexen Problemen besonders relevant ist und was Du tun kannst, um die kognitive Belastung für Deine Teams bestmöglich zu reduzieren.
Was ist Cognitive Load?
Die Cognitive Load Theory hat ihren Ursprung in der Lernpsychologie. Entwickelt wurde sie schon in den späten 80er Jahren von John Sweller.
Sie schreibt dem Arbeitsgedächtnis beim Lernen eine zentrale Rolle zu, weil sie davon ausgeht, dass die Kapazität unseres Arbeitsgedächtnisses begrenzt ist.
Vereinfacht gesprochen besagt die Cognitive Load Theory, dass uns unwesentliche und nicht-relevante Faktoren “Kapazität stehlen” und dadurch weniger Kapazität für den eigentlichen Lerninhalt bleibt.

Dazu unterscheidet die Cognitive Load Theory zwischen drei verschiedenen Formen kognitiver Belastung: Intrinsic, Extraneous und Germane Cognitive Load.
Intrinsic Cognitive Load
Intrinsic Cognitive Load (intrinsische kognitive Belastung) steckt in der zu lösenden Aufgabe selbst. Einfache Aufgaben, wie beispielsweise das Lernen von Vokabeln, erzeugen deshalb einen geringen Intrinsic Cognitive Load. Das Erlernen einer Fremdsprache hingegen erzeugt durch die damit einhergehende Komplexität eine hohe kognitive Belastung.
Dabei spielt natürlich auch das Vorwissen des Lerners eine Rolle. Wer beispielsweise bereits Französisch, Italienisch und Latein kann, dem wird das Erlernen von Spanisch weniger schwer fallen als jemandem, der noch gar keine Fremdsprache spricht.
Extraneous Cognitive Load
Extraneous Cognitive Load (Extrinsische kognitive Belastung) ist nicht direkt mit der zu lösenden Aufgabe verbunden, sondern entsteht durch externe (aber mit dem Lernen einhergehende) Faktoren.
Wenn Du zum Beispiel mit Hilfe von Babbel eine Fremdsprache erlernen möchtest, aber Du die Funktionsweise der App nicht verstehst oder die App auf Deinem Gerät nicht richtig funktioniert, entsteht für Dich kognitiver Aufwand, der Dich davon abhält, Dich auf das Wesentliche zu konzentrieren. (Nämlich das Lernen von Vokabeln bzw. das Erlernen einer Fremdsprache.)

Germane Cognitive Load
Germane Cognitive Load (Lernbezogene kognitive Belastung) entsteht aus dem Zusammenspiel bzw. dem Verhältnis zwischen Intrinsic und Extraneous Cognitive Load. Je geringer der Extraneous Cognitive Load ist, desto mehr Kapazität bleibt Dir für das Lösen der Aufgabe. Das Ziel sollte es deshalb immer sein, dass der Germane Cognitive Load so hoch wie möglich ist, um den besten Lerneffekt zu erzeugen.
Warum kognitive Belastung für agile Teams relevant ist
Auch wenn die Cognitive Load Theory ursprünglich aus der Lernpsychologie stammt, leiten sich daraus wichtige Schlussfolgerungen für die Arbeit agiler Teams ab. Diese sind nämlich täglich mit der Lösung komplexer Probleme beschäftigt. Komplexität bedeutet jedoch, dass das Wissen für diese Lösung noch nicht vorhanden ist, sondern erst erzeugt bzw. generiert werden muss.
Wie Du den Cognitive Load für Deine Teams reduzieren kannst
Organisatorische Maßnahmen
Die erste Möglichkeit, um den Cognitive Load für agile Teams zu reduzieren, sind organisatorischer Art. Falls Deine Organisation bereits das Scrum Framework oder Kanban nutzt, habt Ihr bereits die notwendigen Mittel, um Kontextwechsel zu reduzieren und die Komplexität von Work Items zu minimieren.
Reduziere Kontextwechsel
Die erste organisatorische Maßnahme, um den Cognitive Load für agile Teams zu reduzieren, ist der Fokus auf einen klaren Themenbereich. Wenn sich Dein Team mit der Lösung vieler komplexer Probleme beschäftigt, dann ist es sinnvoll, ein Problem nach dem anderen zu lösen. (Und eben nicht alle gleichzeitig.)
Das Scrum Framework bietet zu diesem Zweck verschiedene Elemente, die Deinem Team dabei helfen, die aktuell zu bearbeitende Themenvielfalt auf ein Minimum zu reduzieren. Hierzu zählen beispielsweise das Sprintziel, das Sprint Backlog, aber auch das Produktziel sowie eine (thematische) Backlogpriorisierung.

All diese Elemente reduzieren zwar nicht die insgesamt vorhandene Komplexität, tragen jedoch dazu bei, die kognitive Belastung Deines Teams (während des Sprints) zu reduzieren, weil die derzeit bearbeiteten Themen deutlich reduziert werden.
Darüber hinaus kann auch ein WIP-Limit dazu beitragen, Kontextwechsel (und damit den Cognitive Load) während eines Sprints zu minimieren.
Verringere die Komplexität von Work Items
Ein weiterer Schlüssel, um den Cognitive Load Deiner Teams zu reduzieren, liegt im Product Backlog Refinement. Agile Teams tun gut daran, die Komplexität der zu erledigenden Aufgaben durch Techniken wie User Story Splitting soweit wie möglich zu reduzieren. Je kleiner und klarer eine User Story ist, desto stärker sinkt auch ihre Komplexität und somit der dadurch entstehende Cognitive Load bei der Umsetzung.
Maßnahmen auf Teamebene
Die zweite Möglichkeit, um die kognitive Belastung von Teams zu reduzieren, sind Maßnahmen auf Teamebene. Dazu gehört beispielsweise die Schaffung interdisziplinärer Teams, die so eingespielt wie möglich sind, weil sie bereits lange miteinander zusammenarbeiten.
Schaffe interdisziplinäre Teams
Interdisziplinäre Teams leisten einen wertvollen Beitrag, um den Cognitive Load für jedes einzelne Teammitglied deutlich zu verringern.
Denn dadurch, dass bei der Lösung eines komplexen Problems diverse Experten zugegen sind, verringert sich die kognitive Belastung für jeden einzelnen.
Das notwendige Know-how wird durch interdisziplinäre Teams auf mehrere Köpfe verteilt, was für den einzelnen den mentalen Aufwand reduziert.

Transaktives Gedächtnis
In der Psychologie ist dieses Phänomen auch als transaktives Gedächtnis (engl. Transactive Memory System, kurz TMS) bekannt. Der Psychologe Daniel Wegner fand heraus, dass Teams, die sich untereinander gut kennen, andere Mitglieder sozusagen als “lebendigen Gedächtnisspeicher” nutzen.
In interdisziplinären Teams mit einem gut funktionierenden transaktiven Gedächtnis wissen die Teammitglieder intuitiv, wen sie zu einem Thema ansprechen können, wenn sie eine bestimmte Herausforderung nicht eigenständig lösen können. Aber auch in gemeinsamen Meetings erkennen sie sofort, ob sie sich eine bestimmte Information selber merken müssen oder nicht: Weil sie die Spezialgebiete der anderen Teammitglieder kennen. Bei einer Information, die zu einem solchen Spezialgebiet gehört, wissen sie deshalb, dass sich das andere Teammitglied diese Information merken wird.
Halte Teams stabil
Das oben erwähnte transaktive Gedächtnis entsteht jedoch nur dann, wenn ein Team möglichst eingespielt ist und sich alle untereinander gut kennen. Stabile Teams, die bereits über einen langen Zeitraum hinweg miteinander arbeiten, sind deshalb eine Grundvoraussetzung für ein funktionierendes transaktives Gedächtnis. Auch die Teamgröße hat dabei einen starken Einfluss auf das gemeinsam geteilte Gedächtnis.

Baue Know-how in den Teams auf
Die dritte Möglichkeit, um einem hohen Cognitve Load zu begegnen, ist der Aufbau von Know-how innerhalb eines Teams. Das reduziert zwar nicht die Komplexität der Aufgaben selbst, hilft jedoch dabei, mit verbessertem Wissen an die Lösung der Aufgaben heranzugehen. Allerdings sind dieser Option natürliche Grenzen gesetzt, weil man schlichtweg nicht jegliches Know-how in die Köpfe von Menschen pressen kann.
Veränderte Teamstrukturen
Neben den oben genannten Maßnahmen auf organisatorischer bzw. Team-Ebene können auch veränderte Teamstrukturen dafür sorgen, den Cognitive Load für Teams maßgeblich zu reduzieren.
Skelton und Pais unterscheiden in Team Topologies zwischen 4 Teamtypen und 3 Interaktionsformen zwischen diesen Teamtypen.
Definiere klare Domänen für jedes Team
Der Team-Topology-Ansatz setzt die Cognitive Load Theory ins Zentrum seiner Überlegungen. Demnach darf die kognitive Belastung, die durch den Verantwortungsbereich bzw. die Domäne eines Teams entsteht, dessen kognitive Kapazität nicht überlasten. Deshalb schlagen Pais und Skelton vor, dass für jedes Team eine klare Domäne definiert wird, für die es zuständig ist.
Dabei ist es übrigens erst einmal unerheblich, ob es sich dabei um Komponenten einer Software, ein ganzes Produkt oder auch ein bestimmtes Set an Features handelt. Maßgeblich ist lediglich der Cognitive Load, den die jeweilige Domäne für ein Team verursacht bzw. mit sich bringt.
Lege Interaktionsformen fest
Neben klaren Domänen sind außerdem die Interaktionsformen zwischen Teams maßgeblich für den Cognitive Load der beteiligten Teams. (Hierzu unterscheiden Team Topologies zwischen Kollaboration, X-as-a-Service und Facilitation.)
Obwohl Kollaboration eine wichtige Interaktionsform für agile Teams ist, um komplexe Herausforderungen zu lösen, bringt sie auch viele Nachteile mit sich. So erzeugt sie beispielsweise für alle Beteiligten einen sehr hohen Cognitive Load. Weil viel, oft und häufig miteinander kommuniziert werden muss.
Skelton und Pais schlagen deshalb vor, Kollaboration bewusst und wann immer möglich nur über einen gewissen Zeitraum zu nutzen. Viel sinnvoller ist es, Kollaboration (langfristig) durch die Kommunikationsform X-as-a-Service zu ersetzen. Damit ist gemeint, dass ein Team seine Leistung als Dienst bzw. Dienstleistung zur Verfügung stellt, die von anderen Teams “einfach genutzt” werden kann.
Auf diese Weise lässt sich der Cognitive Load für die Teams, die diesen Service verwenden, reduzieren. Weil sie sich “darum nicht auch noch kümmern müssen”.

Löse Komplexität aus der Arbeit am Wertstrom heraus
Eine zentrale Rolle zur Reduzierung der kognitiven Belastung agiler Teams spielen dabei Complicated-Subsystem Teams und Platform Teams.

Fazit zu Cognitive Load
Ich hoffe, ich konnte Dich mit diesem Artikel ein wenig inspirieren, die Cognitive Load Theory für Dich und Deine Team zu einem zentralen Thema bei der täglichen Arbeit zu machen. Möglichkeiten, die kognitive Belastung zu reduzieren, gibt es dazu auf organisatorischer, team-interner und team-übergreifender Ebene in jedem Fall zuhauf.
Und auch wenn es anfangs schwierig sein wird, Eure Teams vollkommen neu zu strukturieren, so habt Ihr zumindest immer noch die Möglichkeit, Euer Product Backlog stringenter zu priorisieren und mit Hilfe klarer Sprintziele die Themenvielfalt in Euren Sprints deutlich zu reduzieren. (Eure Entwickler werden es Euch auf jeden Fall danken.)